Frau Prof. Dr. Kemper, welche Relevanz haben Physiotherapeut:innen für unser Gesundheitssystem?
Prof. Dr. Claudia Kemper:Die Physiotherapie ist seit Langem ein fester Bestandteil in der medizinischen Versorgung: Ob zum Beispiel bei Rückenschmerzen, Gelenkerkrankungen, Krebserkrankungen, vor oder nach chirurgischen Eingriffen, nach Knochenbrüchen, aber auch bei vielen neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfall oder Parkinson – sobald es um funktionelle Beweglichkeit und Bewegung geht, sind Physiotherapeut:innen gefragt. Wissenschaftliche Erkenntnisse der vergangenen Jahre zeigen, dass die Physiotherapie hinsichtlich Lebenserwartung und Lebensqualität eine zentrale Rolle spielt. Das bildet sich in unserem Gesundheitssystem dadurch ab, dass sie – unter ärztlichem Vorbehalt – bei einer Vielzahl von Erkrankungen verordnungsfähig ist.
Sie haben sich damals für eine Ausbildung zur Physiotherapeutin entschieden. Wie kam es dazu?
Zunächst war ich Theologin und bin dann durch ein Praktikum, das ich in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung absolviert hatte, von einem Physiotherapeuten begeistert worden. In der Folge habe ich die Ausbildung zur Physiotherapeutin gemacht und bin es bis heute mit Leib und Seele.
Die Physiotherapie verbindet ein sehr umfangreiches medizinisches, therapeutisches Wissen mit einem sehr intensiven menschlichen Kontakt. Viele der Patient:innen werden zu Freund:innen, zu engen Begleiter:innen über einen längeren Zeitraum. Wir haben das Glück und den Luxus, mehr Zeit mit Patient:innen verbringen zu können, im Vergleich zu Ärzt:innen, die nur wenige Minuten haben, oder zu Pflegekräften, die in der ambulanten Pflege viel von einem zum anderen fahren müssen.
Dieses Plus an Zeit genießen wir und natürlich die Sinnhaftigkeit, jemandem wieder auf die Beine zu helfen und zu mehr Lebensqualität beizutragen.
Obwohl der Beruf erfüllend ist, brechen der Branche aktuell viele Fachkräfte weg. Welche Gründe machen Sie dafür verantwortlich?
Unter anderem spielt da der oft genannte demografische Wandel eine Rolle. Die Babyboomer-Jahrgänge, zu denen ich auch gehöre, brechen bald weg. Wenn man jeden Tag acht Stunden an der Bank steht, viel manuell, aber auch intensiv kognitiv arbeitet, ist es nicht so einfach, das bis zur Rente so durchzuhalten. Frauen, die sich für den Beruf entscheiden und dann Kinder bekommen, kehren oft in Teilzeit zurück, sodass uns auch hier Stunden fehlen. Zwar ist der Anteil an männlichen Kollegen gewachsen und gleicht das etwas aus, dennoch liegt der Berufsverbleib in der Physiotherapie bei etwa zehn Jahren. Das heißt, junge Menschen verlassen diesen Beruf im Schnitt nach zehn Jahren. Das ist ein Skandal!
Woran liegt das?
Es hat natürlich auch etwas mit Geld zu tun. Die Vergütung in der ambulanten Versorgung hat sich zwar mittlerweile etwas verbessert, ist aber noch lange nicht attraktiv genug. Dann gibt es einen zweiten Faktor: die Entfremdung von der beruflichen Identität. Man wird Physiothereapeut:in, weil man Patient:innen behandeln will, weil man helfen möchte. Aber wenn die Rahmenbedingungen so gestrickt sind, dass man sich mehr mit Krankenkassen rumplagen muss oder unter hohem Zeitdruck und Stress arbeiten muss und lediglich ein Zeitfenster von 20 Minuten pro Patient:in zur Verfügung hat, dann bleibt die Freude irgendwann auf der Strecke. Diese Entfremdung betrifft Physiotherapeut:innen und Pflegekräfte gleichermaßen.
Ist es vor diesem Hintergrund attraktiver, nach der Ausbildung die Eröffnung einer eigenen Praxis anzustreben oder sich mit anderen zu einer Gemeinschaftspraxis zusammenzuschließen?
Die schlechte Vergütung hat in der Tat in der Vergangenheit dazu geführt, dass wir in Deutschland ein ausgeprägtes System von Kleinstpraxen mit ein oder zwei Personen haben. Die Gründe liegen auf der Hand: Ich bin mein eigener Herr, kann selber entscheiden, wie ich meinen Arbeitsalltag gestalte, wie viele Patient:innen ich am Tag in welchem Takt annehme – und es ist attraktiver, wenn ich in meine eigene Tasche wirtschafte. Auf Dauer ist das aber so nicht haltbar, weil man es in diesem Konstrukt nicht schafft, eine breite medizinische und therapeutische Palette in der gebotenen Qualität anzubieten. Glücklicherweise geht die Entwicklung inzwischen dahin, dass wir wieder mehr größere Praxen haben.
Was muss sich aus Ihrer Sicht neben einer angemessenen Vergütung noch ändern, damit der Beruf als Ausbildungsberuf attraktiver wird und bleibt?
Ein wesentlicher Aspekt ist der Bereich der Akademisierung, nicht deshalb, weil jetzt auf einmal alle studierte Physios sein sollen. Es hat schlichtweg etwas mit Verantwortung zu tun: Wenn man wie ich als Gesundheitswissenschaftlerin von oben auf das System schaut, dann ist es eine Milchmädchenrechnung. Es fehlen Ärzt:innen, es fehlen Pflegekräfte, es fehlen Physiotherapeut:innen, es fehlt Geld.
Wir müssen effektiver und effizienter arbeiten und uns mehr an wissenschaftlichen Ergebnissen, an neuesten Forschungserkenntnissen orientieren. Dazu brauchen wir andere Strukturen, die auch mehr Verantwortlichkeit verteilen.
Inwiefern?
Wenn Sie zum Beispiel überlegen, dass jeden Tag ein Drittel der Patient:innen, die bei den Hausärzten in die Praxis gehen, unspezifische Rückenschmerzen haben, dann frage ich mich: Was machen die da? Die haben da nichts verloren und halten nur den Arbeitsalltag der Hausärzt:innen auf. Das gleiche gilt für Menschen mit Gelenkschmerzen, etwa einer Hüft- oder Kniearthrose.
Diese Patient:innen könnten direkt, also ohne Rezept, zu den Physiotherapeut:innen gehen, wie es in anderen Ländern wie Schweden, England oder Holland schon lange machbar ist. Dazu müssen die Physiotherapeut:innen aber gut ausgebildet sein, etwa in Sachen Differenzialdiagnostik. Sie müssen Verantwortung übernehmen können und dürfen. Dazu bedarf es nicht nur rechtlicher Grundlagen, sondern auch einer entsprechenden Ausbildung, und diese muss akademisch qualifiziert sein.
Ich muss Studien lesen können, ich muss wissen, was eine evidenzbasierte Therapie ist, wie der aktuelle Entwicklungsstand ist. Wir sind in Europa das einzige Land, das diesen Weg noch nicht beschritten hat. Und da müssen wir unbedingt nachziehen, damit wir eine hohe Ausbildungs- und somit auch Therapiequalität sicherstellen können. Wir brauchen keine Akademiker – wenn man jetzt mal vom Bereich Management und Lehre absieht – aber wir brauchen hochschulisch ausgebildete, qualifizierte Fachkräfte an der Bank, die mit Patient:innen arbeiten. Dazu ist der Weg der Akademisierung unabdingbar.
Fordern Sie eine Voll- oder Teilakademisierung?
Der Weg zu mehr Zufriedenheit und der Lösung vieler Probleme in der Versorgung kann meines Erachtens nur über eine Vollakademisierung führen. Die Teilakademisierung ist nett gemeint. Der Wissenschaftsrat hat vor einigen Jahren mal diese zehn bis 20 Prozent in den Raum gestellt. Aber aktuelle Studien zeigen, dass noch viel, viel, viel zu wenig akademisierte Therapeut:innen in der patientennahen Versorgung angekommen sind. Da müssen wir unbedingt nachbessern. Selbst wenn wir sagen, wir wollen Vollakademisierung, müssen wir ganz klar sehen, dass wir noch nicht mal auf dem notwendigen Weg der Teilakademisierung vorangeschritten sind.
Welche Gründe machen Sie hierfür verantwortlich?
Das hat zum Beispiel mit dem Weiterbildungsspektrum in der Physiotherapie zu tun. Es ist eine Besonderheit in Deutschland, aber auch eine Besonderheit in der Physiotherapie, dass wir nach der dreijährigen Ausbildung nur etwas mehr als 50 Prozent der Leistungen abgeben dürfen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen. Für alles darüber hinaus brauchen wir eine zusätzliche Weiterbildung. Das ist ein Unding und muss unbedingt reformiert werden.
Wenn ich darüber mit Kolleg:innen aus anderen Ländern spreche, gucken die mich mit großen Augen an: Ich kann zum Beispiel neurologische Patient:innen nicht ohne eine Zertifikats-Weiterbildung behandeln. Ich kann auch an großen Geräten aus der medizinischen Trainingstherapie keine Patient:innen anleiten, keine Lymphdrainage durchführen – und das alles nach drei Jahren Ausbildung. Sicherlich könnte man bei den Lehrinhalten „ausmisten“ und Inhalte einfügen, welche die Kolleg:innen dazu befähigen, auch diese Leistungen abzugeben. Dann kann man sich immer noch spezialisieren. Das ist gar keine Frage.
Wie sieht in Ihren Augen der ideale Ausbildungsweg in Theorie und Praxis aus?
Wir haben im Moment zwei Wege, die in die Physiotherapie führen: Das ist die normale fachschulische Ausbildung, wie sie ja bekannt ist. Und wir haben primär qualifizierende Studiengänge, das bedeutet die Ausbildung läuft unter dem Dach einer Hochschule und vermittelt sowohl am Ende die staatliche Zulassung als Physiotherapeut:in und auch den Bachelor in einem. Da stehen wir aber in Deutschland immer noch in einer Warteschleife. Das sind alles Modellprojekte, die noch nicht verstetigt sind. Deshalb haben wir noch vergleichsweise wenig Möglichkeiten und Plätze, die Leute so auszubilden. Die meisten werden tatsächlich an Fachschulen ausgebildet.
Die aktuelle Studienlage zeigt, dass viele junge Menschen gleich zu Beginn neben den entsprechenden Weiterbildungen aber auch einen akademischen Weg gehen. Diesen Weg würde ich auch empfehlen. Dann hat man den Bachelor in der Tasche und ist auf der sicheren Seite, falls es gesetzliche Veränderungen gibt.
Die APOLLON Hochschule bietet hier eine entsprechende Qualifizierung an. Wie sieht diese genau aus?
Die APOLLON Hochschule hat sich auf den Weg gemacht zur Weiterqualifizierung von Gesundheitsfachkräften aus Pflege und Therapie, mit dem Ziel einer evidenzbasierten und patientennahen Versorgung. Wir starten dieses Jahr noch mit dem Bachelor-Studiengang Pflege und der therapiewissenschaftliche Studiengang wird aller Voraussicht nach im Jahr 2023 starten. Wir sind bei der Akkreditierung schon recht weit fortgeschritten.
Es wird einen interdisziplinären Bachelor für Ergo- und Physiotherapie geben. Mein Ziel dabei ist, dass wir nicht für irgendwelche Nischen qualifizieren – Management-Studiengänge oder Ähnliches haben wir auch – sondern Praktiker:innen für die patientennahe Versorgung ausbilden.
Wir bieten also einen berufsbegleitenden Studiengang: Da sind Kolleg:innen angesprochen, die schon die fachschulische Ausbildung haben und dann berufsbegleitend bei uns den Bachelor of Science erwerben können. Hierbei handelt es sich um einen sehr wissenschaftlichen und forschungsnah ausgeprägten Studiengang.
Und damit stehen den Absolvent:innen im Bereich Physiotherapie alle Türen offen?
Genau. Wir haben für die Leistungserbringung in Deutschland, im Moment zumindest, noch nicht die Notwendigkeit, einen Bachelor zu haben. Aber die Berufsgesetze sind in der Überarbeitung, und ich gehe davon aus, dass irgendwann auch in Deutschland ein akademischer Abschluss die Voraussetzung ist. Diese Voraussetzung kann man dann schon erfüllen. Der Arbeitsmarkt zeigt ja auch, dass von den wenigen Fachkräften, die in Zukunft noch auf dem Markt sind, die bestausgebildeten als Rosinen herausgepickt werden. Und hier hoffen wir, mit unserem Studiengang gut darauf vorzubereiten, mit einer Qualifizierung, vielleicht auch irgendwann zum Direktzugang, indem wir einen Schwerpunkt setzen auf Screening und Differenzialdiagnostik. Das gibt es bislang meines Wissens so nicht.
Wie steht es generell um die Inhalte der Ausbildung? Häufig werden diese als veraltet kritisiert ...
Im Grunde hat sich an den Rahmenbedingungen seit meiner Ausbildung, mit der ich 1999 fertig war, tatsächlich nichts verändert. Wir haben eine bundeseinheitliche Ausbildungsprüfungsverordnung, da steht eine Liste von Fächern, die mit Zahlen hinterlegt sind, wie viele Stunden dieses Fach unterrichtet werden muss. Was sich inhaltlich dahinter verbirgt – dafür gibt es keine Regeln. Es kann somit sein, dass jede Fachschule ihr eigenes Curriculum strickt und dieses von der Behörde für die Zulassung absegnen lässt. Aber ein Curriculum ist eben auch nur ein Rahmen. Was genau dahinter steckt und mit welcher Qualität die Lehrkräfte arbeiten, ist sehr unterschiedlich. Das Grundproblem ist hierbei der Status der Schulen, weil es eben von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Modelle gibt.
Was wünschen Sie sich stattdessen?
Was wir brauchen, ist eine Qualitätssicherung. Ich würde mir wünschen, dass diese nicht von irgendwelchen Behörden in irgendwelchen Ministerien erfolgt, sondern von uns Physiotherapeut:innen selber. Das heißt, dass wir selber – Stichwort „Verkammerung“ – aus unserer Profession heraus die Inhalte liefern. Das können doch nicht andere für uns bestimmen. Sondern wir müssen unsere Inhalte selbst formulieren: Das ist unsere Messlatte. So muss Physiotherapie in Deutschland ausgebildet werden. So machen es die Ärzt:innen ja auch. Und so etwas geht nur durch das Instrument einer Kammer
Zur Person: Prof. Dr. Claudia Kemper
Prof. Dr. Claudia Kemper hat bereits als Lehrkraft an verschiedenen Hochschulen, als Schulleitung und als Geschäftsführung eines Hospiz- und Palliativzentrums gearbeitet. Ebenso hat sie in der Berufspolitik als Generalsekretärin des Deutschen Verbandes für Physiotherapie, an der internationalen Vernetzung, Leitlinienarbeit und an Ausbildungsfragen aktiv mitgewirkt. Für ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt der Versorgungsforschung bringt sie Erfahrungen in Routinedatenauswertungen mit. Claudia Kemper möchte ihren Fokus auf Impulse aus den Gesundheitsfachberufen legen, um die Weiterentwicklung akademischer Konstrukte sowie die Integration von Wissenschaft und Praxis mitzugestalten.
Das Interview führte Daniela Krause
Weitere Informationen zur APOLLON Hochschule unter www.apollon-hochschule.de
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