Bremen
Ausgleich gesucht zwischen der ökonomischen Kraft der Gesundheitswirtschaft und der sozialen Basis der Krankenversorgung
Auf dem „1. APOLLON Symposium der Gesundheitswirtschaft“ am 30. Oktober 2009 in Bremen referierten zwei Gesundheitswissenschaftler über ihre Ansichten zur Zukunft der Branche: Professor Gerd Glaeske vom Bremer Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) unterstrich die soziale Verantwortung aller Beteiligten und Privatdozent Josef Hilbert, Sprecher des Netzwerkes Deutscher Gesundheitsregionen, erklärte die Strukturen des stürmisch wachsenden Wirtschaftszweiges.
Ohne Gesundheit kein erfolgreiches Wirtschaften.
Die Gesundheit als solche sei inzwischen einer der wichtigsten Treiber für Innovation, Beschäftigung und Wachstum, sagte Hilbert in seinem Eingangs-Statement. Deshalb gelte auch das Gesundheitswesen nicht mehr - wie früher – als Belastung der Wirtschaft, sondern als ihre Voraussetzung. „Viele Einrichtungen, Unternehmen und Regionen setzen längst auf die Gesundheitswirtschaft und werden so zu Promotoren für innovative Lösungen“, sagte Hilbert. Diesen „Perspektivwechsel“ gelte es voran zu bringen forderte der Professor. Beispiel: High Tech. 2006 verkauften die 551 Bio-Tech-Firmen in Deutschland 43 Prozent ihrer Produkte und Dienstleitungen an das Gesundheitssystem. Hilbert dazu: „Wer zu High Tech ja sagt, darf zu Gesundheit nicht nein sagen.“
In der Tat war die Gesundheitswirtschaft schon in den letzten Jahren der „Hidden Champion“, der heimliche Gewinner, der Gesamtwirtschaft. Eine Million Jobs entstanden in der Branche während der letzten 20 Jahre. Der Umsatz kletterte in dieser Zeit auf viele hundert Milliarden Euro, so Hilbert. „Und in den nächsten 20 Jahren werden aller Voraussicht nach abermals eine Million neuer Jobs in der Gesundheitswirtschaft entstehen.“ Wahrscheinlich eine ernst zu nehmende Einschätzung. Denn die alternde Bevölkerung und der medizinische Fortschritt werden im Verbund mit dem wachsenden Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung Motor der Entwicklung sein. „Früher diente das Gesundheitswesen der Lebensrettung. Mit dem wachsenden Wohlstand dient sie mehr und mehr auch einem gesunden Lebensstil“, sagte Hilbert. „Gesundheit wird zum Statussymbol.“
Hier setzte später Werner Heister an. Er leitete im Rahmen des Symposiums einen Marketing-Workshop. Der Professor für Betriebswirtschaft im sozialen Sektor von der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach erläuterte die Marketing-Möglichkeiten im Wettbewerb um die gesundheitsbewussten Kunden. „Wir haben starke Marken, aber wir benutzen sie nicht!“, beklagte Heister. Die Firma „Tchibo“ sei da viel weiter. „Sie bietet zum Beispiel ärztlich begleitete Reisen an, aber zuerst hat sie Marktforschung betrieben.“ Ein Unterfangen, das Heister auch Kliniken dringend empfahl. „Kliniken brauchen Bindungsmanagement, funktionierende Internetkommunikation und ein internes Marketing, das die Mitarbeiter ans Haus bindet“, so Heister.
Die Politik hinkt hinterher
Josef Hilbert verwies auf die hohe Bedeutung der deutschen Gesundheitsregionen. „Anfangs eine Kopfgeburt, heute fast ein Fieber“, charakterisierte er die Entwicklung der derzeit 18 Regionen. Allerdings sei ihre tragende Funktion noch nicht nach Berlin vorgedrungen. „Gerade mal sechs Zeilen waren der neuen Koalition in ihrer Vereinbarung die Gesundheitsregionen wert“, bedauerte Hilbert. Dabei können die Regionen schon jetzt auf Pionierarbeit verweisen. Beispielsweise kamen die ersten vergleichenden Klinikbewertungsportale in den Gesundheitsregionen auf, so Hilbert. „Auch der Ausbau von Hausnotrufdiensten oder die Kombination von Telemedizin und Versorgungsmonitoring bei Herzkreislaufpatienten – die Gesundheitsregionen machen der großen Politik vor, wie die Gesundheitsversorgung der Zukunft erfolgreich sein kann – wirtschaftlich und medizinisch.“ Der Gesetzgeber müsse nun nachziehen.
Wo bleiben die Fachkräfte? Und wer bezahlt sie?
Auch wenn viele neu entstandene Arbeitsplätze im Gesundheitssystem als „400-Euro-Job“ auf dem Markt sind, bleibt die Gesundheitswirtschaft ein „Treiber“, hieß es. Michaela Evans vom Zentrum für Innovation und Gesundheitswirtschaft (ZIG) in Bielefeld unterstrich in ihrem Workshop den Wandel der Berufsbilder im Gesundheitssystem. Tatsächlich ist etwa bei Ärzten eine deutliche Feminisierung festzustellen - das wird früher oder später den Gesundheitsbetrieb verändern, in Kliniken und Medizinischen Versorgungszentren muss etwa ganz neu über familienfreundliche Dienstpläne nachgedacht werden. Eine Stimme aus dem Publikum mahnte allerdings, bei aller Euphorie über den „Jobmotor Gesundheit“ nicht die Kassenlage zu vergessen: „Ist jeder demographische Bedarf auch eine bezahlbare Sache?“ Man brauche in der Pflege eine ‚Funktionsbereinigung‘, hieß es, also Arbeitskräfte, „die nur bestimmte Dinge tun und auch nur dafür bezahlt werden.“
Zu wenig Geld auf der einen Seite, zu wenig Personal auf der anderen. Josef Hilbert präsentierte erschreckende Zahlen zum Nachwuchs in Pflege und Versorgung. Jede fünfte Pflegekraft in Deutschland spielt mit dem Gedanken auszusteigen. „Zwei Drittel der Medizinstudenten denkt an Auswanderung.“ Kein Wunder, denn die Arbeitsverdichtung bei der Krankenversorgung ist enorm. Nicht zuletzt deshalb kehren Ärzte Deutschland den Rücken. „Der sogenannte ‚war for talents‘ hat längst begonnen“, so Hilbert.
Wachstum versus Gerechtigkeit?
Den Chancen der Gesundheitswirtschaft stehen erhebliche Risiken gegenüber, die berücksichtigt werden müssen. Das betonte Hilbert ebenso wie sein Kollege Professor Gerd Glaeske aus Bremen. Drohen soziale und regionale Gesundheitsungleichheiten, wenn sich die medizinische Versorgung an den Bedürfnissen des „Gesundheitskunden“ orientiert und nicht am Versorgungsbedarf? Zerbricht die „Industrialisierung“ der Medizin das Arzt-Patienten-Verhältnis? Was Hilbert noch in Fragen fasste, ist für Professor Gerd Glaeske aus Bremen schon Realität. „Die Gefahr ist, dass wir mit der Gesundheitswirtschaft die sozialen Gegensätze verschärfen“, sagte Glaeske, „Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status haben in Deutschland schon heute eine um zehn Jahre kürzere Lebenserwartung als Menschen mit gutem sozio-ökonomischen Status.“ Kurz: Reiche leben länger, Arme sterben früher. Für Glaeske „eine Herausforderung“. Sein Rezept: Weg vom Arzt oder Pflegedienst als Anbieter und vom Patienten als Kunden. Dafür hin zu einem sektorübergreifenden Gesamtkonzept, das die Bevölkerung insgesamt in den Blick nimmt und gemeinsam unter einem organisatorischen Dach agiert. So können die Reibungsverluste zwischen Krankenhaus, Pflege und niedergelassenen Ärzten vermindert werden, meint Glaeske. Dem „Perspektivwechsel“ Hilberts, also dem gezielten Verweben von Ökonomie, Gesundheit und Wirtschaftswachstum, stellte der Versorgungsforscher Glaeske seine Forderungen nach Qualität und Kooperation im Gesundheitswesen gegenüber. Setzte Hilbert auf den Wettbewerb um Marktanteile, damit das Rad der Gesundheitswirtschaft in Schwung kommt, so setzt Glaeske auf den Wettbewerb um Qualität, damit die Versorgung in Schwung kommt – und zwar aus den Mitteln der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), wie er betonte.
Damit die Kosten der GKV nicht in den Himmel wachsen, müssen die Schnittstellenprobleme etwa zwischen Hausarzt und Klinik oder der Kranken- und der Pflegeversicherung behoben werden. „So tut die Krankenversicherung noch relativ wenig für ihre Demenzpatienten“, sagte Glaeske, „denn sie weiß, dass sie früher oder später in die Pflegeversicherung hinein wachsen.“ Statt immer mehr Patienten in immer kürzeren Abständen und immer weniger Zeit zu behandeln, um wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben, sollten die Ärzte per sektorübergreifendem Versorgungsvertrag die wirklich Kranken behandeln können – evaluiert, qualitätsgesichert und koordiniert. Der Gesetzgeber erlaube heute schon brauchbare Modelle. Beispiel: Das „Gesunde Kinzigtal“, wo zwei Krankenkassen mit einer GmbH aus einer großen Gruppe von Ärzten einen Gesamtversorgungsvertrag für ihre Kunden geschlossen haben.
Solche Modelle könnten ausgebaut werden, so Glaeske. Allerdings beklagte er eine Reihe von Problemen – etwa die unzureichende Evaluation und den deshalb fehlenden Lerneffekt oder die Zurückhaltung der Krankenkassen, die aus Angst vor Beitragserhöhungen die notwendigen Innovationen meiden.
Glaeskes Fazit enthielt neben dem Hinweis auf das hohe Potential der Gesundheitswirtschaft gleichzeitig eine Mahnung: Wer die Chance der prosperierenden Gesundheitswirtschaft ergreifen will, muss auch den Auftrag einer sozialen medizinischen Versorgung annehmen.
Weitere Informationen zur Hochschule im Internet unter www.apollon-hochschule.de
Für Presseanfragen, Bild- oder Interviewwünsche steht Ihnen gerne zur Verfügung:
text+pr, Yvonne Bries, Tel. 0421 565 17 24, bries@mueller-text-pr.de