London (dpa)
Nachlässigkeit, Arroganz und Überforderung: Die Reaktion der britischen Regierung auf die Coronavirus-Pandemie liest sich wie eine Chronologie des Versagens. Inzwischen wurden in Großbritannien mehr Todesfälle erfasst als in irgendeinem anderen Land Europas.
Großbritannien galt noch vor einigen Wochen als Land, in dem sich das Coronavirus nur zaghaft auszubreiten schien. Politiker klopften sich bereits auf die Schulter und lobten das Gesundheitssystem, das so gut wie kein anderes auf der Welt auf eine Pandemie vorbereitet sei. Doch das sollte sich schnell als Irrtum erweisen.
Inzwischen hat das Vereinigte Königreich mehr Todesfälle unter Covid-19-Patienten registriert als irgendein anderes Land in Europa. Experten warnen zwar zum Teil vor dem direkten Vergleich dieser Zahlen - zu unterschiedlich seien die Methoden bei der Erhebung, Bevölkerungszahl, Altersstruktur und andere Faktoren. Doch es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Regierung in London die Pandemie massiv unterschätzt hat.
Als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 30. Januar eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ verkündete, hatte Premierminister Boris Johnson ganz andere Dinge im Kopf. Einen Tag später führte er sein Land aus der Europäischen Union. Auf dem Parliament Square inmitten Londons herrschte Volksfeststimmung unter den Brexit-Anhängern. Das Virus schien in weiter Ferne. Bei einer Rede wenige Tage später warnte Johnson davor, in Panik zu verfallen und die großartigen Chancen, die der Brexit biete, durch allzu harsche Beschränkungen zu schmälern.
Auch danach zeigte Johnson wenig Interesse an der schnell fortschreitenden Ausbreitung des Virus. Mitte Februar zog er sich mit seiner Verlobten, Carrie Symonds, für zwölf Tage auf den Landsitz Chevening in der Grafschaft Kent zurück. Er verpasste in dieser Zeit fünf Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats Cobra zur Pandemie.
Noch Anfang März prahlte der Premier, er habe Menschen in einem Krankenhaus, darunter Covid-19-Patienten, die Hand geschüttelt und werde dies weiterhin tun. Die Maßnahmen der Regierung beschränkten sich zu diesem Zeitpunkt auf den Ratschlag, sich häufig und gründlich die Hände zu waschen.
Die Regierung legte einen mehrstufigen Plan vor. Doch der wurde nach Recherchen des «Guardian» eigentlich für eine Influenza-Pandemie entworfen. Demnach sollte der Ausbruch zuerst eingedämmt und dann verzögert werden. Dazu gehörte auch die Idee, rasch eine möglichst weitgehende Immunisierung der Bevölkerung zu erreichen. Doch schon damals warnten unabhängige Wissenschaftler, die Herdenimmunität-Strategie werde zu Hunderttausenden Toten führen.
Am 12. März verkündete Johnson, das Land trete von der Eindämmungs- in die Verzögerungsphase ein. Aggressives Testen und Kontakte nachzuverfolgen, mache nun keinen Sinn mehr, hieß es. Dabei testete Großbritannien ohnehin schon weit weniger als etwa Deutschland. Einwände von Journalisten, die WHO empfehle weiterhin, so viele Tests wie möglich durchzuführen, wurden als Empfehlung an Schwellen- und Entwicklungsländer abgetan. „Wir haben ein extrem hoch entwickeltes öffentliches Gesundheitssystem und unsere Teams bilden andere im Ausland aus“, sagte Jenny Harries, die Vize-Chefberaterin der Regierung in medizinischen Fragen bei einer Pressekonferenz.
Auch Maßnahmen zur sozialen Distanz wurden vorerst nicht eingeführt. Schließlich wolle man den Ausbruch nicht komplett unterdrücken, sondern nur verlangsamen. Außerdem bestehe die Gefahr, dass die Menschen den Kontaktbeschränkungen bald überdrüssig würden, so die Argumentation. Lediglich wer Symptome entwickle, solle für sieben Tage zuhause bleiben, so die Empfehlung. Später wurde die Quarantäne-Anordnung auf ganze Haushalte erweitert. Doch Massenveranstaltungen wurden noch nicht untersagt.
Erst Mitte März leitete die Regierung eine Kehrtwende ein. Aufgeschreckt wurde sie von einer Studie des Imperial College in London. Die Forscher hatten ausgerechnet, dass die ursprüngliche Strategie der Regierung zu einer erheblichen Überlastung der Krankenhäuser führen werde und 250 000 Menschen bis August das Leben kosten könnte. Doch noch immer dauerte es eine Woche, bis Schulen, Restaurants und Läden geschlossen wurden und das Alltagsleben weitgehend zu Erliegen kam. Das letzte Wochenende vor dem Lockdown nutzten viele Menschen für Ausflüge. In Nationalparks wurden Rekord-Besucherzahlen verzeichnet. Ende des März teilte Johnson mit, an dem Virus erkrankt zu sein.
Erst als die Briten auf die Erfolge Deutschlands aufmerksam wurden, ging auch London zu massenhaften Tests über. Doch das brauchte Zeit. Es wird befürchtet, dass die späte Einsicht vielen Menschen das Leben gekostet haben könnte. Vor allem in Altenheimen, wo sich das Virus weiterhin rasch ausbreitet.
Ähnlich träge war London bei der Beschaffung von Schutzkleidung für medizinisches Personal. Wohl teils aus Überforderung, teils aus falschen Annahmen über die benötigten Materialien. Wie die „Financial Times“ (FT) recherchierte, gingen die Behörden noch im Februar davon aus, dass genug Schutzkleidung vorhanden sei. Doch das stellte sich als Irrtum heraus, weil auch hier für eine Influenza-Pandemie geplant worden war, wie die FT berichtete. Das Material sei nicht geeignet gewesen. Erst viel zu spät seien Bestellungen aufgegeben worden, die zuständigen Behörden waren angeblich überfordert.
Die Frist zu einem gemeinsamen Beschaffungsprogramm der EU verstrich ungenutzt. Der Grund war angeblich eine zu spät erhaltene Email aus Brüssel, doch Besprechungsprotokolle zeigen, dass britische Diplomaten seit Langem von dem Programm wussten. Wahrscheinlicher ist, dass sich die Brexit-begeisterte Regierung in London dem Programm aus ideologischen Gründen nicht anschloss.