Berlin/Dortmund (dpa)
Übermüdet, überlastet, erdrückt von angestautem Stress und gepeinigt durch unbewältigte Tiefs: Viele Männer in Deutschland haben psychische Probleme, ignorieren das aber und nehmen keine Hilfe in Anspruch, wie Fachleute zum Internationalen Männertag (19. November) herausstellen.
„Krankheiten, insbesondere psychische, sind für viele nicht vereinbar mit dem klassischen Männlichkeitsideal“, berichtet Anne-Maria Möller-Leimkühler vom Vorstand der Stiftung Männergesundheit. Die Orientierung an traditionellen Männlichkeitsnormen, „also stark und erfolgreich zu sein, Probleme allein zu lösen, durchzuhalten und keine Gefühle zu zeigen“, sei bei älteren Männern ausgeprägter als bei Jüngeren. Diese Haltung könne „sehr selbstschädigend“ sein.
Viele Männer hätten aufgrund ihrer Sozialisation nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu ihrer Gefühlswelt, beobachtet die Professorin für Sozialwissenschaftliche Psychiatrie an der Uni München. „Sie verdrängen und bagatellisieren ihre psychischen Probleme.“ Vor allem Depressionen würden oft als Ausdruck von persönlicher Schwäche und Versagen missverstanden. So mancher versuche, mit „männlichen Strategien“ zu kompensieren, sagt Möller-Leimkühler. „Also mehr Aggression und Wut, mehr Alkohol, mehr sozialer Rückzug, viel mehr Arbeit, viel mehr Sport, mehr Risikoverhalten und Flucht ins Virtuelle.“
Psychische Erkrankungen sind alles andere als selten
Jeder vierte Erwachsene in Deutschland ist innerhalb eines Jahres von einer psychischen Erkrankung betroffen - etwa jede dritte Frau und jeder vierte bis fünfte Mann, wie Anette Kersting von der Klinik für Psychosomatische Medizin am Uniklinikum Leipzig schildert. „Männer leiden häufiger an einem Substanzmissbrauch, also Abhängigkeit oder Missbrauch von Alkohol und Drogen.“ Dagegen werde eine Depression bei ihnen nur etwa halb so oft diagnostiziert wie bei Frauen. Allerdings könnten Depressionen bei Männern mitunter übersehen werden, erläutert die Klinik-Direktorin.
Gerade bei Depressionen geht Möller-Leimkühler von einer hohen Dunkelziffer und Unterdiagnostizierung aus. Nicht erkannte Depressionen könnten folgenschwer sei: Erwerbsunfähigkeit, sozialer Abstieg, Vereinsamung, Angsterkrankungen, Diabetes, Schlaganfall, eine allgemein erhöhte Sterblichkeit. Und: „Die Suizidrate von Männern ist mindestens dreimal so hoch wie die von Frauen.“
Spielt der Job eine zentrale Rolle?
Generell treten psychische Störungen unabhängig vom Beruf auf, heißt es in Fachkreisen. Möller-Leimkühler weist allerdings auf Risikoberufsgruppen mit einem hohen Männeranteil hin, in denen es häufiger als in der Allgemeinbevölkerung zu psychischen Störungen komme: Bundeswehr, Rettungswesen und auch Polizei. Belastungen könnten hier extrem und traumatisch sein, zugleich seien traditionelle Männlichkeitsnormen eher stark ausgeprägt. Als häufigste Störungen gelten hier Posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen. Grundsätzlich seien Männer viel stärker von beruflichen Stressoren belastet als Frauen.
Nicht nur ihre Ideale scheinen Männern öfters im Weg zu stehen. Frauen könnten Symptome besser erkennen und benennen als Männer, sagt Anette Kersting, die im Psychiater-Berufsverband DGPPN das Referat Frauen- und Männergesundheit leitet. „Wir sehen klare Geschlechtsunterschiede bei der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems. Die Hilfsangebote werden von Männern deutlich seltener genutzt.“ Unter Menschen mit psychischen Problemen sei ohnehin nur eine Minderheit in therapeutischer Behandlung - Männer dabei noch seltener als Frauen.
Der Mangel an Plätzen sei problematisch, betont auch Psychologe Sebastian Jakobi, der Unternehmen beim Arbeitsschutz berät. „Wer eine Psychotherapie braucht, befindet sich in einer geschwächten Lebenssituation und kann nicht viele Monate lang auf einen Therapieplatz warten.“ Dass es dabei anteilig wenig männliche Therapeuten gebe, falle hingegen weniger ins Gewicht. Das sei jedenfalls nicht der Grund dafür, dass Männer selten eine psychotherapeutische Praxis aufsuchten.
In den letzten Jahrzehnten habe das Klischee „ein Mann kennt keinen Schmerz“ an Bedeutung verloren. Tendenziell sei das häufiger bei Jüngeren als bei Älteren der Fall, beobachtet Jakobi, der im Psychologen-Berufsverband DGPPN zum Vorstand der Freiberufler-Sektion gehört. „Achtsamkeit, Reflexion, Hilfe aufzusuchen und anzunehmen, sind wichtige Gesundheitskompetenzen.“ Hier gebe es noch „wichtige Baustellen“ für einen erheblichen Teil der Männer.
Auch in einer modernen Gesellschaft mit angestrebten gleichen Chancen, Rechten und Verantwortlichkeiten für Männer und Frauen gebe es viele Männer, die an sich selbst belastend hohe Ansprüche etwa mit Blick auf eine Familien-Versorgerrolle stellten. Zugleich sieht Jakobi einen Trend zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen. Es werde mehr Augenmerk auf psychische Faktoren gelegt, die Diagnostik sei besser geworden, auch bei der Ärzteschaft gebe es eine deutlich gesteigerte Sensibilisierung.
Was können digitale Angebote leisten?
Wenn Männer, die Angst vor Stigmatisierung haben und keine Hilfe in Anspruch nehmen würden, zu Apps für die mentale Gesundheit greifen, „ist das gut, besser als nichts“, meint Jakobi. Vorteile aus deren Sicht könnten sein: niedrigschwelliges, anonymes Angebot, leichtes Wechseln zwischen mehreren Apps. Aber: „Es ist ein Trugschluss zu denken, dass solche digitalen Angebote eine echte persönliche Therapie mit einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin ersetzen könnten.“