München (dpa)
Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung in der Medizin einen Schub verschafft. Die Videosprechstunde beim Arzt wird mittlerweile millionenfach von Patienten angenommen. Das Wachstum sorgt für Freude bei den Plattformanbietern, erzeugt aber auch Kritik.
Die Telemedizin in Deutschland wächst rasant. „Corona hat uns in diesem Bereich um fünf Jahre nach vorne katapultiert“, sagt die Geschäftsführerin der Münchner Teleclinic GmbH, Katharina Jünger. In ihrer Branche sind fünf Jahre eine lange Zeit. Ihr Unternehmen, das eine der großen Plattformen für Telemedizin in Deutschland betreibt, hat Jünger vor sechs Jahren gegründet. Zusätzlichen Schub erhofft sich die Teleclinic-Chefin von einer Gesetzesreform, mit der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Online-Behandlungen weiter erleichtern möchte. So sollen auch Physiotherapeuten und Hebammen Patienten über Computer und Smartphone unterstützen können.
Auch das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (ZI) hat nach Ausbruch der Corona-Pandemie einen sprunghaften Anstieg der Videosprechstunden beobachtet - rund 1,7 Millionen zählte das Institut zwischen März und September 2020. „Im Vergleichszeitraum 2019 waren es praktisch null“, sagt der ZI-Geschäftsführer Dominik von Stillfried. Allerdings hält er den Zeit- und Organisationsaufwand, den Ärzte mit Videosprechstunden haben, oftmals für ein beträchtliches Hindernis. „Für die Praxen sind Online-Kontakte sehr ineffizient im Vergleich zu den normalen Sprechstunden.“
Nach einer Umfrage des Digital-Branchenverbands Bitkom bieten rund 17 Prozent der Praxisärzte Videosprechstunden an. Weitere 40 Prozent können sich ein solches Angebot vorstellen. „Wir sehen hier eine extrem starke Offenheit“, sagt Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder.
Zu den Medizinern, die schon sehr früh offen für Videosprechstunden waren, gehört der Münchner Hausarzt Markus von Specht. Als er vor sechs Jahren begann, seine Patienten auch online aus der Ferne zu behandeln, war er damit in der Ärzteschaft noch ein Exot. Die Nachfrage der Patientinnen und Patienten habe gerade mal gereicht, um eine Video-Stunde in der Woche zu füllen. Jetzt hat er eine tägliche Onlinesprechstunde. „Und die ist immer ausgebucht“, erzählt er. Als technischen Dienstleister hat er die deutsche Tochter der französischen Firma Doctolib beauftragt.
Die Internet-Plattform, die auch einen Schwerpunkt auf die Terminvereinbarung legt, wird nach eigenen Angaben in Deutschland jeden Monat von mehr als vier Millionen Nutzern besucht. Doctolib will den Rückenwind der Pandemie für weiteres Wachstum nutzen, ebenso wie die deutsche Tochter des schwedischen Anbieters Kry.
Schon Anfang 2020 hatten die Schweden bekannt gegeben, dass sie von Investoren 140 Millionen Dollar für eine weitere Expansion eingesammelt haben. Die medizinische Direktorin von Kry Deutschland, Monika Gratzke, sagt: „Mit dem Geld können wir Technologien umsetzen, die zu einer besseren Versorgung der Patienten im deutschen Gesundheitswesen führen.“
Große Wachstumschancen für sein Unternehmen sieht auch der Geschäftsführer des Münchner Telemedizin-Unternehmens Jameda, Florian Weiß. Die Firma, die als Arzt-Bewertungsportal bekannt geworden ist, hat ihr Geschäft mit der Digitalisierung der ärztlichen Behandlung mittlerweile auf mehrere Bausteine ausgeweitet. Weiß sagt, es gehe nicht um eine Technisierung der Medizin. „Die Beziehung zwischen Arzt und Patient steht dabei im Mittelpunkt.“
In der Ärzteschaft stoßen die Initiativen zu einer Ausweitung der Telemedizin auf ein geteiltes Echo. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, ist sicher: „Wir werden da noch interessante Modelle erleben können.“ Er fügt aber hinzu: „Bauchschmerzen können Sie nicht online behandeln.“ Mit Skepsis sieht Reinhardt, dass sich in der Telemedizin große Unternehmen immer stärker engagieren. Jameda wurde 2015 vom Medienkonzern Burda übernommen. Zur Unternehmensgruppe gehört auch das Portal DocMorris, das Online-Vertrieb von Medikamenten betreibt.
Ärztepräsident Reinhardt befürchtet Zielkonflikte, wenn Ärzte mit einem Unternehmen zusammenarbeiten, das ein wirtschaftliches Interesse daran hat, möglichst viele Medikamente zu verkaufen. „Ich sehe das hochkritisch“, sagt Reinhardt. Die Ärztekammer prüfe, ob diese Konstruktion rechtlich Bestand haben kann. Teleclinic-Geschäftsführerin Katharina Jünger zeigt sich gelassen: „Selbstverständlich passen wir da auf.“
Nicht nur von der Spitze der Bundesärztekammer gibt es Vorbehalte dagegen, dass sich in der Online-Medizin immer größere Allianzen bilden. Der Münchner Hausarzt von Specht sieht eine Gefahr: „Dass finanzielle Interessen den größten Raum einnehmen und dass es nicht um die bessere Patientenversorgung geht.“