Washington/Berlin (dpa)
Vor 60 Jahren gingen in den USA die ersten Antibabypillen über den Ladentisch. Millionen Frauen weltweit setzen bis heute darauf. Über medizinische, politische und gesellschaftliche Kontroversen.
Einfach, unkompliziert, zuverlässig: Als 1960 die erste Antibabypille „Enovid“ in den Vereinigten Staaten auf den Markt kam, eröffneten sich für Frauen neue Möglichkeiten. Beim Verhüten, aber längst nicht nur. Pessare, Kondome oder abenteuerlichere Methoden? Für viele nun passé: Die Pille habe das Konzept von Empfängnisverhütung neu definiert, heißt es in einer medizinhistorischen Studie. Mit der Studentenbewegung und der sexuellen Revolution in den 1970er Jahren wurde sie auch zum Symbol des gesellschaftlichen Wandels. Stets war sie auch Anlass für Debatten. Über Veränderungen und Konstanten in sechs Jahrzehnten:
ANFÄNGE: In den USA war „Enovid“ seit 1957 für die Behandlung gynäkologischer Beschwerden zugelassen. Nach Tests unter anderem in Puerto Rico, die heutige Standards etwa für die Teilnehmerzahl nicht erfüllen würden, wurde das Mittel zur Verhütung zugelassen. Frauenrechtlerinnen hatten den Anstoß für die Forschung gegeben. Allerdings hätten auch Gedanken wie Eugenik und Rassismus bei der Entwicklung eine Rolle gespielt, sagt die Medizinhistorikerin Lisa Malich von der Universität Lübeck. Beim Verkaufsstart in Deutschland im Jahr 1961 - hier hieß das Produkt „Anovlar“ - sei die erste Pille vorsichtig als Mittel zur „Ovulations- oder Familienkontrolle“ bezeichnet und nur an verheiratete Frauen abgegeben worden.
FÜR GESUNDE: „Das Besondere an der Pille ist, dass sie von gesunden Frauen und über längere Zeiträume eingenommen wird“, sagt Malich. Unerwartet schnell habe sie sich zum Bestseller entwickelt, schon Mitte der 1960er Jahre verhüteten Millionen Frauen damit. Dass manche Autoren darin das erste „Lifestyle-Medikament“ der Geschichte sehen, stößt bei der Expertin auf Skepsis: Damit werde die Bedeutung der Verhütung für Frauen unterschätzt. Risiken bei damaligen Abtreibungen waren schließlich auch einer der Faktoren für die Pillen-Entwicklung.
WIRKUNG: Heute gibt es eine Vielzahl an Präparaten. Meist wird eine Kombination zweier künstlich hergestellter Hormone genutzt, die den körpereigenen Hormonen Östrogen und Gestagen ähneln. Sie bewirken, dass im Körper kein weiteres Ei heranreift und der Gebärmuttermund mit festem Schleim verschlossen wird, so dass es für Spermien kein Durchkommen gibt. Die Gebärmutterschleimhaut baut sich nicht neu auf. Die ersten und die heutigen Pillen unterscheiden sich deutlich.
RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN: Die Debatte darüber ist keineswegs nur eine aktuelle. Die Beliebtheit der Pille wurde schon kurz nach der Markteinführung etwas gedämpft: Durch die einst deutlich höhere Östrogendosis sei auch das Risiko für Thrombosen und Lungenembolien etwas höher gewesen, schildert Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte, und ebenso das für Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Wassereinlagerungen oder Zwischenblutungen. Gestagene habe es noch nicht in der heutigen Vielfalt gegeben.
Malich zufolge hat sich auch wegen der Pille eine Frauengesundheitsbewegung entwickelt: Themen wie Abtreibung, Pillen-Nebenwirkungen, Thrombose-Risiko und gefürchtete Folgen wie Krebs kamen öffentlich zur Sprache. Thrombosen und Embolien sind bis heute Thema: Wie der AOK Bundesverband erklärt, bekommt mehr als die Hälfte der Frauen, die die Pille auf Kosten der gesetzlichen Kassen verordnet bekommt, risikoreichere Präparate der neueren Generation.
AUFKLÄRUNG: Frauenärzte sehen einen gestiegenen Beratungsaufwand. Albring erklärte, seit einigen Jahren werde bei jeder erstmaligen Verschreibung eines Präparats ein vorgeschriebener Meldebogen ausgefüllt und dabei ausführlich über das Thromboserisiko gesprochen. Die Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft, Ingrid Mühlhauser, erklärte hingegen kürzlich auf dpa-Anfrage: „Die Informations- und Aufklärungsprozesse in den Arztpraxen entsprechen bisher nicht den wissenschaftlichen Anforderungen an informierte Entscheidungen.“ Frauen würden bisher unzureichend über Nutzen und Schaden der unterschiedlichen Verhütungsmethoden aufgeklärt.
Die Autorin Isabel Morelli kritisiert in dem Buch „Kleine Pille, große Folgen“ (erscheint am 17. August), dass Nebenwirkungen von vielen Frauen nicht als solche bemerkt oder in Kauf genommen würden. Es fehle an Wissen über den eigenen Körper, den Zyklus und die Wirkung von Hormonen. Manche junge Mädchen sähen in der Pille eine „Lifestyledroge“, die etwa reinere Haut verspreche.
VERHÜTEN HEUTE: In einer Studie von 2019 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erwiesen sich Pille und Kondom als etwa gleich beliebt unter sexuell aktiven Erwachsenen in Deutschland. Die BZgA konstatierte einen „Verhaltenswandel“: Im Vergleich zur Vorgängerstudie von 2011 nahm die Kondomnutzung zu, während die Pille an Zuspruch verlor, vor allem bei Frauen zwischen 18 und 29. Insgesamt zeige sich „eine eher kritische Einstellung zu hormonellen Verhütungsmethoden“. Fast jede zweite Befragte stimmte der Aussage zu, dass Verhütung mit Hormonen „negative Auswirkungen auf Körper und Seele“ habe. Verordnungsdaten belegen den Trend bei jungen Frauen.
ZUKUNFT TECHNIK? Die heutige Kritik kommt aus Sicht von Wissenschaftlerin Lisa Malich vor allem von jüngeren Frauen, denen ein ökologisches Leben wichtig ist. Aber auch Technologien, die durch die Bestimmung des Eisprungs bei der Verhütung helfen sollen, spielten eine Rolle. Frauenarzt Albring zeigt sich mit Blick auf den Nutzen solcher Apps äußerst skeptisch. „Insgesamt sehen wir ein großes Interesse an natürlicher Verhütung, aber in der Praxis ist das nur für ganz wenige Paare ein sinnvoller Weg, meist wenn schon irgendwie ein bisschen ein Kinderwunsch besteht und es nicht schlimm ist, wenn dann doch eine Schwangerschaft eintritt.“
ALTERNATIVEN: In den vergangenen Jahren seien häufiger Spiralen eingesetzt worden als früher, weil es inzwischen kleinere, auch für junge Mädchen verträglichere Modelle gebe, so Albring. „Dass die Pille als Verhütungsmittel komplett durch andere Methoden ersetzt und abgelöst werden könnte, ist nicht abzusehen.“ Es gebe keine derartig zuverlässigen und alltagstauglichen Alternativen. Manche Kritiker würden ergänzen: Insbesondere fehlt noch die Pille für den Mann.
INTERNATIONAL: Nach einem Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) nutzen geschätzt 232 Millionen Frauen in 120 Ländern keine Verhütungsmittel, obwohl sie nicht schwanger werden möchten. Aber immerhin habe sich die Zahl der Frauen, die moderne Verhütungsmittel wie die Pille einsetzen, zwischen 1990 und 2018 beinahe verdoppelt, auf 840 Millionen. Dies habe zu Rückgängen bei ungewollten Schwangerschaften und der Müttersterblichkeit geführt.