Berlin (dpa)
Erst die Corona-Pandemie und jetzt die Flutkatastrophe: Zwei Extremsituationen, die Deutschland in kurzem Abstand mit voller Wucht treffen - und ein Gefühl von Machtlosigkeit erzeugen. Was hilft gegen die neue Unsicherheit?
Auf einmal ist alles anders. Menschen verlieren geliebte Angehörige, all ihr Hab und Gut, ihr Zuhause. „Die deutsche Sprache kennt kaum ein Wort für die Verwüstungen, die hier angerichtet wurden“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Flutkatastrophe in Deutschland. Wie schon zuvor die Corona-Pandemie lässt auch dieses Ereignis sicher geglaubte Dinge äußerst fragil erscheinen.
Riesige Erdlöcher, weggerissene Häuser, davonschwimmende Autos: Viele empfinden dies ähnlich wie Corona als nie dagewesene Krisen zu ihren Lebzeiten. Und nicht nur die akut selbst Betroffenen spüren Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Denn schon seit dem Frühjahr 2020 leben die Menschen in Deutschland coronabedingt in einer Extremsituation. Und nun werden sie auch noch mit Bildern konfrontiert, auf denen binnen kürzester Zeit gefühlt ganze Orte weggespült werden. Wie sind wir als Gesellschaft auf solche Krisen eingestellt?
„Wir sind aus größeren Katastrophenereignissen über die Jahrzehnte, da wir weitgehend verschont geblieben sind, etwas rausgewachsen“, sagt der sozialwissenschaftliche Katastrophenforscher Martin Voss. Im 20. Jahrhundert etwa hätten die beiden Weltkriege bei den Menschen und nachfolgenden Generationen eine Art Bewusstsein dafür geschaffen, dass es auch gesamtgesellschaftliche Schicksalsschläge gebe. „Das ist eine Mentalität, die aus solchen kollektiven Katastrophen wächst, und die ist rausgewachsen nach 70, 80 Jahren“, erklärt der Wissenschaftler von der Freien Universität Berlin.
Dies habe auch damit zu tun, dass Deutschland eine Wohlstandsgesellschaft sei, die sehr viele Menschen im Alltag weitgehend von allen Risiken freistelle. „Die größeren Katastrophen beobachten wir ja eigentlich schon länger nur noch im Fernsehen, in den Medien, anderswo.“
An dieser Gewissheit hat schon die Pandemie gerüttelt. Ob die Ereignisse jedoch zu einem dauerhaften Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft beitragen, ist für Voss noch nicht sicher. „Auch nach diesen extremen Tagen werden wir vermutlich doch nach drei, vier Jahren weitgehend zur Normalität zurückkehren und eher wieder die Augen verschließen vor dem, was passieren kann.“
Aber weil Frequenz und Häufigkeit von Krisen und Katastrophen zumindest gefühlt zunehmen, kann sich das auch zu einem grundlegenderen Wandel verstärken, sagt Voss. Eine Aussicht, die angesichts einiger Prognosen etwa für die Klimakatastrophe nicht ganz unrealistisch erscheint. Schon die Krisen in den vergangenen 20 Jahren hätten einen Einfluss auf das kollektive Bewusstsein gehabt - weg von einem Trend zu einer gefühlt friedlicher werdenden Welt, so der Forscher.
Die Psychologin Christina Jochim von der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung betont: Von jetzt auf gleich, ohne jegliche Vorwarnung, in einer existenziell bedrohlichen Situation zu sein, also etwa die eigenen vier Wände zu verlieren, die einem Sicherheit und Alltag bieten - das sei natürlich für jeden erst einmal erschütternd. Es sei kaum möglich, sich auf solche Situation einzustellen. „Wir Menschen sind keine Fans von Kontrollverlust und auch keine Fans von Ohnmacht“, sagt sie.
Beim Umgang mit diesen Extremsituationen spiele durchaus eine Rolle, dass beide Katastrophen - Pandemie und Flut - schwer fassbare Dimensionen und Auswirkungen annehmen. Wichtiger sei aber: „Psychische Bewältigungsfähigkeit ist nicht unerschöpflich.“ Man stoße an Grenzen, so Jochim.
Am Ende hat die Psychologin jedoch auch noch eine positive Aussicht: „Wir Menschen können manchmal mehr bewältigen, als wir denken.“ Als Beispiel nennt sie die Angst- und Unsicherheitsgefühle zu Beginn der Corona-Pandemie, mit denen dann doch relativ zeitnah viele individuell, aber auch die Gesellschaft als Ganzes klargekommen seien.
Jochim sagt: „Wenn die Krise bewältigbar ist, wird das zwar immer ein belastender Teil der eigenen Biografie sein - aber auch ein gut integrierbarer Teil, also ein Teil, mit dem man auch zurechtkommen kann.“ Es gilt also, einen neuen Horizont zu öffnen für die Zeit danach - wie es Kanzlerin Merkel am Wochenende bei ihrem Besuch im von der Flut verwüsteten Eifel-Örtchen Schuld versuchte: „Bund und Land werden gemeinsam handeln, die Welt wieder Schritt für Schritt in Ordnung zu bringen in dieser wunderschönen Gegend.“