Berlin (dpa)
Viele Flüchtlinge in Deutschland haben psychische Probleme. Doch nicht jeder braucht professionelle Hilfe. Vielerorts helfen sich Flüchtlinge gegenseitig - manchmal reicht schon reden.
Der Libanese hatte es vermeintlich geschafft: Nach seiner Flucht, dem Leben in einer Sammelunterkunft, ständiger Angst vor Abschiebung und vielen Behördengängen fand er Sicherheit: ein Bleiberecht, eine Wohnung und einen Job in Berlin. Sein neues Leben konnte jetzt richtig starten. Doch das Gegenteil war der Fall.
„Seine Wohnung wurde für ihn plötzlich zum Gefängnis“, erinnert sich sein Berater Ahmad S. Als das Leben des Flüchtlings in ruhigeren Bahnen verlief, kamen plötzlich Erinnerungen hoch und Panikattacken. „Immer, wenn er die Sirene eines Krankenwagens hörte, ging es los“, erzählt Ahmad S. Sein Klient verlor schließlich die Arbeit wieder.
So geht es vielen Flüchtlingen in Deutschland. Kriege, Krisen, Flucht - die meisten haben traumatische Erfahrungen gemacht. Und oft geht auch das Leben hierzulande mit einer großen Unsicherheit weiter. „Die meisten Flüchtlinge haben chronischen Stress, zum Teil über Jahre, weil sie in ständiger Warteposition leben“, erläutert Iris Hauth vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Stress sei ein Risikofaktor für Depressionen, Angststörungen, Sucht und Suizid.
Doch professionelle Hilfe zu finden ist schwer. „In den ersten 15 Monaten haben Flüchtlinge meist nur bei gravierenden körperlichen Beschwerden Anspruch auf eine Behandlung“, erläutert der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz. Später seien die Wartezeiten für einen Therapieplatz lang. Außerdem fehle es an muttersprachlichen Therapeuten, an für Psychotherapie geschulten Dolmetschern und an Regelungen zur Kostenübernahme für Dolmetscher. Munz schätzt, dass mehr als die Hälfte der Flüchtlinge unter einer psychischen Erkrankung leidet.
„Es gibt in Deutschland einzelne Leuchttürme, die Muttersprachler für die psychotherapeutische Behandlung vorhalten“, sagt Hauth. Aber von einer flächendeckend guten Versorgung sei man weit entfernt. Das behindere die Integration: „Patienten mit unbehandelten Depressionen und Angststörungen können die Angebote gar nicht richtig wahrnehmen.“
Der von Panikattacken geplagte Libanese hatte Glück. Er fand Hilfe bei seinem Landsmann Ahmad S. von IPSO. Die Hilfsorganisation bildet Flüchtlinge zu psychosozialen Beratern aus. „Wir bieten Beratungen im Internet oder in persönlichen Gesprächen - von Menschen, die die Hilfesuchenden aufgrund ähnlicher Erfahrungen und der Herkunft aus dem gleichen Kulturkreis gut verstehen“, sagt Inge Missmahl über das Projekt, das von der Charité wissenschaftlich begleitet wird.
„Oft hilft es, einfach zu reden. Dadurch nehmen die Betroffenen sich wieder selbst wahr und ihr Leben in die Hand“, sagt Missmahl. Sie hat IPSO (International Psychosocial Organisation) vor zehn Jahren gegründet, um Menschen in Afghanistan zu helfen. Mit Ärzten und Psychologen baute sie dort ein Netzwerk von psychosozialen Beratern auf, die inzwischen Teil des Gesundheitssystems sind. „Als 2015 die vielen Flüchtlinge nach Deutschland kamen, haben wir auch hier mit der Arbeit angefangen“, erzählt die Psychoanalytikerin. Seit 2016 hat sie mit anderen Fachleuten bundesweit 70 Flüchtlinge ausgebildet.
Zu ihnen zählt der studierte Psychologe Ahmad S., der den Libanesen beriet. „Ich konnte meinem Klienten klar machen, dass seine Ängste ganz normal sind und er versuchen muss, damit zu leben. Jetzt geht es ihm deutlich besser, er fand eine neue Arbeit“, berichtet S. Eine Therapie sei nicht mehr nötig.
Seine Kollegen Manal T. aus Syrien und Ahmad C. aus Palästina erzählen von weiteren Fällen, denen sie beinahe täglich begegnen. Von Männern, die den Verlust ihres sozialen Status nicht verkraften und den Ärger darüber an ihren Frauen und Kindern auslassen. Von Familien, die nicht wissen, wie sie mit ihren Teenager-Kindern und den neuen Freiheiten der westlichen Welt umgehen sollen. Oder von Flüchtlingen, deren zurückgebliebene Angehörige zu hohe Erwartungen haben, die nicht erfüllt werden. „Wir wissen genau, was die meisten Leute fühlen, weil wir vieles selbst erlebt haben“, sagt Ahmad C.
Ein solcher Hilfsansatz sei unter manchen ihrer Kollegen vielleicht umstritten, sagt Hauth von der DGPPN. Sie halte ihn aber angesichts der großen Hürden, in die Regelversorgung zu kommen, für hilfreich. „Man muss einfach auch neue Wege gehen.“
Auch Munz von der Psychotherapeutenkammer hält das Konzept für ein „grundsätzlich gutes Angebot“. „Es geht ja darum, Vertrauen aufzubauen“, betont er. Die Berater könnten bei leichteren Fällen hilfreich sein und die Betroffenen auch sozial unterstützen. „Teilweise können sie auch mit bestimmten psychologischen Methoden hilfreich unterstützend zu sein. Eine Psychotherapie können sie jedoch nicht ersetzen“, sagt Munz.
Nicht jeder Flüchtling benötige eine Behandlung durch einen Psychotherapeuten oder Psychiater. Ein Teil erhole sich ohne professionelle Unterstützung. Ein weiterer Teil leide unter Beschwerden, bei denen Beratungs- und Betreuungsangebote ausreichten. „Wichtig ist aber, dass Flüchtlinge, die eine Psychotherapie benötigen, diese zeitnah bekommen“, betont er.
Der Experte betont, dass Berater „gut geschult sein sollten, um zu sehen, wann sie an Grenzen stoßen und wann eine psychotherapeutische Behandlung nötig ist“. Selbst wenn eine Therapie ratsam sei, seien sie hilfreich, da sie ihren Landsleuten dies gut vermitteln könnten.