Hannover (dpa)
Für viele Kinder dürfte es die Erfüllung eines Wunschtraums sein: Die Schule fällt aus, dem Coronavirus sei Dank. Doch nach und nach macht alles dicht - kein Sport, kein Schwimmen, keine Spielplätze. Werden Kinder jetzt zu Stubenhockern? Und am Ende gar krank?
Die Kinder allein nach draußen schicken? Damit tun sich viele Eltern schwer, vor allem in der Stadt, wenn kein Garten da ist. Sie in der Wohnung behalten, während die Eltern vor dem Rechner sitzen und zuhause arbeiten? Ein potenzieller Alptraum. Die Kleinen vor dem Bildschirm parken? Vielleicht eine Lösung, aber sicher nicht für lange. Darauf hoffen, dass selbst ein veritabler kleiner Zappelphilipp für acht Stunden Ruhe gibt? Eine Utopie. Was also tun mitten im Coronavirus-Stillstand, wenn Schulsport, Sportvereine, Schwimmbäder, Spielplätze und sogar der Urlaub ausfallen?
Denn Kinder haben normalerweise einen ausgeprägten Bewegungsdrang, wie Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, sagt. Diesem Drang setzt das sich ausbreitende Coronavirus enge Grenzen. Noch schlimmer dürfte es werden, wenn tatsächlich Ausgangssperren verhängt werden sollten.
Was geschieht mit Kindern, wenn ihre Bewegungsfreiheit im schlimmsten Fall massiv beschnitten wird? „Kinder sind dauernd in Bewegung - zum Leidwesen der Eltern“, sagt Tilman Kaethner, Kinderarzt aus Nordenham im Landkreis Wesermarsch und Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Geht das nicht, sei das zwar objektiv nicht gesund, für ernste gesundheitliche Konsequenzen bei Kindern dürfte aber die Zeit zu kurz sein. Jedenfalls, wenn man von sechs bis acht Wochen Stillstand ausgehe.
Grundsätzlich sei es nicht gut, Kinder zu zwingen, im Haus zu bleiben. Aber: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in einer überschaubaren Zeit Schäden gibt“, meint Kaethner. Die Muskeln von Kindern bauten sich nicht so schnell ab: „Ein Kind bewegt sich per se.“
Und: „Es heißt nicht: Kinder müssen zuhause bleiben“, betont der Düsseldorfer Kinderpsychiater Dirk Heimann. Zu überlegen wäre aus seiner Sicht, ob es ein Weg wäre, dass feste Gruppen von drei bis fünf Kindern sich treffen und gleichzeitig der Austausch mit anderen Kindern deutlich reduziert wird. Auf diese Weise würden Kinder nicht isoliert. „Eltern kennen ihre Kinder ja selbst am besten und merken, wenn ihnen körperliche Auslastung fehlt“, sagt Hilgers. „Wer die Möglichkeit hat, kann den Wald und die Natur entdecken. Und auch in der Wohnung lässt sich tanzen, toben und Verstecken spielen.“
Bei aller Sorge um die Kleinsten in der Coronakrise geht es nach Heimanns Einschätzung auch um die Frage: Ist das jetzt der Stress der Kinder oder der Erwachsenen? „Die Frage, wie ich Kinder beschäftigen soll, hat sich bis vor wenigen Jahrzehnten keiner gestellt, weil Kinder sich selbst beschäftigt haben“, erklärt er. „Das Problem sind überängstliche Erwachsene.“ Er betont aber auch: Menschen verfügten über eine hohe Anpassungsfähigkeit - das schließe Kinder ein.
Einer der Hauptstressoren sei ohnehin die Schule - für viele Kinder vielleicht der bedeutendste, erklärt Heimann. Das merkten auch die Kinderpsychiater: „Unsere Beanspruchung bricht in den Sommerferien massiv ein.“ Selbst mehr Reibungspunkte innerhalb der Familie machten dies nicht wett.
In einer solchen Lage seien pragmatische Lösungen gefragt, urteilt Kaethner. Eltern sollten mit ihren Kindern spielen, interessante Dinge gemeinsam tun - dabei allerdings gebe es Grenzen: „Auch nach sechs Wochen Schulferien geht das irgendwann nicht mehr“, meint der Kinderarzt - und wittert „intrafamiliäres Konfliktpotenzial“. Dann werde man weder soziale Medien noch das Fernsehen oder Konsolenspiele mehr so strikt ablehnen können.
„Es ist nachvollziehbar, dass Kinder jetzt mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen als zu normalen Zeiten“, sagt auch Hilgers. Das sei „für viele Eltern, die Homeoffice und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen müssen, wahrscheinlich ein echter Segen“.
Jugendliche wiederum hätten nicht den Bewegungsdrang von Kindern, erklärt Kinderarzt Kaethner. „Die sitzen dann vor dem Fernseher und essen Chips.“ Zu wenig Bewegung bedeute in der Altersgruppe also vermutlich die Gefahr der Gewichtszunahme. Um ihre sozialen Kontakte müsse man sich aber keine Sorgen machen, die fänden ohnehin elektronisch über soziale Medien statt.
Und wie sehen Kinder den Corona-Stillstand? Der elfjährige Nicolas aus Münster meint: „In der Schule macht es mehr Spaß.“ Sein kleiner Bruder Lukas (8) findet es nicht schlimm, nicht zur Schule zu müssen - aber dass ein Kindergeburtstag ausfiel, stört ihn. Und er fürchtet eine Ausgangssperre: „Dann würde ich mich sehr gefangen fühlen.“