Berlin/Ulm/Frankfurt am Main (dpa)
Nach einem Jahr Pandemie liegen in vielen Familien die Nerven blank. Oft müssen Eltern Lehrer und Erzieher ihrer Kinder sein - und zudem den Haushalt managen und arbeiten.
Warnungen von Kinderschützern, die Gewalt in den Familien könne in der Corona-Pandemie zunehmen, scheinen sich zu bewahrheiten. Das droht vor allem dort, wo es schon vor der Pandemie Schwierigkeiten gab. „Die Luft wird dünner, und die Menschen explodieren schneller“, sagt etwa der Gründer des Kinderprojekts Arche, Bernd Siggelkow.
„Der Stresspegel ist hoch und die psychische Belastung für Kinder immens“, so der Leiter der Arche, die an bundesweit 27 Standorten Angebote für Kinder aus benachteiligten Familien schafft. Kinder seien aggressiver untereinander und gegenüber ihren Eltern. „Wir hatten kürzlich eine Situation, in der eine Achtjährige ihre Mutter erwürgen wollte“, so Siggelkow.
Mit einer Plakat-Kampagne in Berlin und anderen Städten warnt der Verein Innocence in Danger vor den Nebenwirkungen des Lockdowns für Kinder. Dabei geht es vor allem um Opfer sexuellen Missbrauchs, der häufig zuhause stattfindet. „Im Lockdown fallen gesellschaftliche Kontrollmechanismen durch Schule oder Vereine weg. Kinder sind Tätern und Täterinnen in ihren Familien schutzlos ausgeliefert“, erklärt Geschäftsführerin Julia von Weiler.
Repräsentative Daten, die eine Zunahme von Gewalt in Familien während der Corona-Pandemie belegen, liegen laut dem Kinderschutzexperten Jörg Fegert bislang nicht vor. „Online-Befragungen weisen allerdings darauf hin, dass etwa ein Drittel aller Kinder psychische Auffälligkeiten aufweisen, während es vor dem ersten Lockdown etwa ein Fünftel waren“, so der Kinder- und Jugendpsychiater am Universitätsklinikum Ulm.
Nach dem Ende des ersten Lockdowns sei bei der Medizinischen Kinderschutzhotline ein deutlicher Anstieg der Anrufe verzeichnet worden, so Fegert, der die Hotline leitet. Dort können sich etwa Ärzte, Psychotherapeuten und Mitarbeiter der Jugendhilfe melden, wenn sie kollegiale Beratung bei Verdacht auf Kindesmisshandlung wünschen.
Auch das bundesweite Sorgentelefon „Nummer gegen Kummer“ verzeichnet eine deutliche Zunahme an Anrufen von überlasteten Eltern und Kindern mit Problemen. Gewalterfahrungen seien im Pandemiejahr 2020 von Kindern und Jugendlichen häufiger thematisiert worden als 2019, berichtet Sprecherin Anna Zacharias. So wandten sich rund 9200 Kinder und Jugendliche mit einer Gewaltproblematik an das Kinder- und Jugendtelefon - rund 15 Prozent mehr als 2019. Auch die Onlineberatung wurde öfter genutzt, von rund 1100 Kindern und Jugendlichen - 17 Prozent mehr als 2019.
„Die Onlineberatung wurde insgesamt viel mehr in Anspruch genommen. Möglicherweise, weil Kinder und Jugendliche sie unbemerkt von ihren Eltern nutzen können“, sagt der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB), Heinz Hilgers. Der DKSB trägt die Hotline mit. „Seit das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Jahr 2000 gesetzlich verankert wurde, haben wir etwa 15 Jahre lang große Erfolge erzielt. Dann stagnierte die Entwicklung. Jetzt fürchten wir durch Corona Rückschläge“, so Hilgers.
Doch nicht jedes Kind ist in der Lage, allein Hilfe zu suchen. „Es braucht Personen, die überhaupt auf Probleme aufmerksam werden. Wenn Kinder nicht mehr in die Schule gehen, nicht mehr ins Krankenhaus oder zum Arzt in die Praxis kommen, sind die Chancen auch geringer, gehört zu werden“, so der Ulmer Experte Fegert.
Zu den Kindern, die nicht oder kaum gehört werden, zählt Bernd Siggelkow die jungen Arche-Besucher. „Wir sind die Dunkelziffer“, sagt er. Viele Dinge, die die Kinder erlebten, kämen nicht an die Öffentlichkeit. Seine Mitarbeiter versuchten, die Kinder trotz Pandemie zu betreuen. Das gehe aber nur noch in kleinen Gruppen. „Die Kinder können nur noch alle zehn Tage in die Arche kommen“, bedauert Siggelkow.
Von einer Dunkelziffer spricht auch die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Frankfurt, Christine Freitag. Sie beobachtet vor allem eine starke Zunahme von Ängsten, Zwangs- und Essstörungen. „Die Kinder und Jugendlichen brauchen einen Alltag, sie müssen in die Schule gehen und ihre Freunde sehen. Natürlich kann das nur mit einem Hygienekonzept funktionieren“, betont sie.
Sie sei erstaunt, wie vergleichsweise wenig bislang getan worden sei, um sichere Abläufe in Schulen und Kitas zu gewährleisten. „Wir haben uns im Krankenhaus im März 2020 innerhalb von fünf Wochen auf Hygienemaßnahmen umgestellt. Es ist nicht mehr nachvollziehbar, dass die Schulen das nicht hinbekommen“, so Freitag, die auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie ist.
Lehrer und Erzieher seien keine Hygieneexperten, betont sie. Die Länder seien verantwortlich, gemeinsam mit Fachleuten Konzepte zu entwickeln, die frühzeitig umgesetzt werden. „Man hätte längst flächendeckend zum Beispiel Lüftungsanlagen installieren und Teststrategien entwickeln können. Aus meiner Sicht besteht hinsichtlich der bisherigen Strategie zur Öffnung von Schulen und Kitas so etwas wie eine organisierte Verantwortungslosigkeit“, sagt Freitag.
Wird nun eine ganze Generation langfristige Schäden davontragen? Der Ulmer Experte Fegert plädiert dafür, „nicht darüber zu diskutieren, ob wir jetzt eine verlorene Generation haben“. „Das sind für unsere Breiten zu hoch gegriffene Worte, die auch Kinder gleich aufgeben. Die meisten werden es gut bewältigen und den eigenen Kindern mal erzählen, was das für eine seltsame Zeit war“, ist er überzeugt.