Würzburg (dpa)
Gehörlose Menschen sind in der Welt der Hörenden oft isoliert. Im Alter wird das nicht besser. Im Gegenteil: Die wenigsten Pfleger können Gebärdensprache. In Nordbayern vertreibt eine deutschlandweit wohl einmalige Gruppe gehörloser Hospizhelfer diese Einsamkeit.
Ein Lächeln, ein langer Händedruck - und viele Gesten. Wenn Doris Ehrenreich Bewohner eines Würzburger Pflegeheims besucht, lässt sie ihre Hände sprechen. Denn so spendet sie Trost, vertreibt Einsamkeit - oder begleitet beim Sterben.
Ehrenreich (67) ist gehörlose Hospizbegleiterin und Teil einer Gruppe, die bundesweit wohl einmalig ist. „Die Würzburger sind deutschlandweit die erste gehörlose Hospizbegleitergruppe“, sagt Iris Feneberg, Koordinatorin für Hospizarbeit in Bayern bei der evangelischen Landeskirche.
Bereits seit 2001 kümmert sich das Team aus sieben gehörlosen Ehrenamtlichen um ebenfalls gehörlose Pflegebedürftige und Sterbende. Sie kommen dafür sowohl nach Hause als auch ins Heim oder auf die Palliativstation. Unterstützt werden sie von der katholischen und der evangelischen Gehörlosenseelsorge.
„Es ist unglaublich wichtig, dass man gerade in der schwierigen letzten Phase des Lebens jemanden hat, der die Muttersprache spricht. Und Gebärdensprache ist nun mal die Muttersprache der Gehörlosen“, sagt Feneberg. Ob Ärzte oder Pfleger - in den Heimen, Krankenhäusern und auf den Palliativstationen seien Gehörlose von Hörenden umgeben. „Da ist es entspannend, wenn jemand kommt, der gebärdet und mit dem man in einer ganz anderen Tiefe sprechen kann.“
Seit vielen Jahren schon besucht die Hospizgruppe auch die Seniorin Lieselotte Beck. Die 77-Jährige wohnt im Würzburger Marienheim. Das Heim hat auch Zimmer für Gehörlose. Beck strahlt, wenn Doris Ehrenreich neben ihrem Rollstuhl sitzt. Mit wachen Augen beobachtet die demente Seniorin dann jede Hand- und jede Mundbewegung der Hospizhelferin. Ehrenreich gebärdet extra langsamer, damit die Seniorin alles gut verstehen kann.
Ohne die regelmäßigen Besuche der Hospizgruppe hätte Beck nur selten Gäste, wäre weitgehend isoliert. Denn während Hörende zumindest Geräuschen und Gesprächen lauschen können, bleibt Gehörlosen diese Welt verschlossen. Sie können im besten Fall nur sehen und fühlen.
Statistisch gesehen ist rund ein Promille der deutschen Bevölkerung gehörlos. Deutschlandweit wären das etwa 80 000 Menschen. Rund 16 000 davon dürften älter als 65 Jahre sein, schätzen Experten für Pädagogik und Rehabilitation hörgeschädigter Menschen von der Universität Köln. Unter der Leitung von Thomas Kaul wurde dort die Situation älterer Gehörloser in Deutschland untersucht.
Ihre Ergebnisse waren ernüchternd: Weil es zu wenig Beratung für diese Gruppe und zu viel Pflegepersonal ohne Wissen über die kommunikativen und kulturellen Bedürfnisse von Gehörlosen gibt, sind ältere Gehörlose beim Zugang zu vielen ihnen zustehenden Pflege- und Gesundheitsleistungen eingeschränkt.
Größte Barriere ist dabei die nicht funktionierende Verständigung zwischen Hörenden und Gehörlosen. „Dann ist die Gefahr sehr hoch, dass es innerhalb des Pflegeheims zu Isolation kommt“, sagt Nele Büchler, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts Kompetenzzentren für gehörlose Menschen im Alter (GIA).
Deshalb sei der Kontakt zu anderen Gehörlosen für sie wichtig. „Besuche von gehörlosen Hospizhelfern sind ein ganz wertvolles Element in diesem Kontext“, sagt Büchler weiter. Zudem sei wichtig, von den Pflegekassen anerkannte Qualitätskriterien für die Pflege und Beratung älterer Gehörloser zu haben. Derzeit erarbeitet die Projektgruppe um Kaul solche Kriterien.
Die Hospizhelfer sind deshalb auch für das Pflegepersonal eine Bereicherung. „Frau Ehrenreich bringt unseren Pflegern auch einige wichtige Gebärden bei und gibt Tipps für die Kommunikation mit Gehörlosen“, sagt Marienheim-Leiterin Zaida Hock.
Zum Beispiel, dass es wichtig ist, Augenkontakt zu den Gehörlosen zu halten, wenn man ihnen etwas sagen will. Und langsam und deutlich zu sprechen, damit die Gehörlosen einfacher von den Lippen lesen können. Zudem brauchen Gehörlose Körperkontakt. „Uns kann man nicht einfach rufen“, sagt Ehrenreich dazu.
Gerade wenn Gespräche in Gebärdensprache nicht mehr möglich sind, weil die Sterbenden schon zu schwach sind, sind Berührungen das A und O. Ehrenreich nimmt dann gern ein bisschen Mandelöl und massiert damit die Hände der Sterbenden und Pflegebedürftigen. „Das ist ein Gefühl von großer Nähe“, so die gelernte Schneiderin.
Die Gehörlosen-Gemeinschaft in Unterfranken ist mit etwa 1000 Betroffenen eher klein. Die meisten kennen sich. „Es geht einem immer nah, wenn einer stirbt“, so Ehrenreich. Die Hospizgruppe trifft sich regelmäßig - auch um die Besuche zu reflektieren. „Diese Gruppengespräche sind wichtig, weil sie entlasten“, sagt Ehrenreich.
2016 gab es in Nürnberg den deutschlandweit ersten Kurs für gehörlose Hospizhelfer nach den Vorgaben des bayerischen Hospiz- und Palliativverbandes, unter Leitung der Hospizkoordinatorin Feneberg. Die Nachfrage nehme stetig zu, die Kursanfragen kommen aus ganz Deutschland und sogar Österreich. Sieben Wochenenden lang lernen die Teilnehmer, Sterbende auf ihrem besonderen letzten Weg zu begleiten.
Das Wichtigste für die Hospizarbeit aber könne man nicht lernen, sagt Hospizbegleiterin Ehrenreich. „Man braucht Zeit. Wir bieten uns an. Wir drängen uns nicht auf. Für mich ist der Sterbende wichtig - die Hausarbeit kann liegen bleiben.“