Hannover (dpa)
Wenn sie im Stress sind, greifen Raucher oft und gern zur Zigarette. Wie groß aber ist der Stress inmitten der Corona-Pandemie, des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, des Klimawandels oder der Sorgen wegen Energiekrise und hoher Inflation? Raucher in Deutschland rauchen offenbar wieder mehr.
Die vergangenen Monate wirkten sich negativ auf das Rauchverhalten der Menschen in Deutschland aus, wie eine Forsa-Umfrage im Auftrag der KKH Kaufmännische Krankenkasse in Hannover ergab. Jeder vierte Raucher rauchte demnach häufiger oder hatte erst kürzlich mit dem Tabakkonsum angefangen - nur jeder zehnte rauchte weniger oder hatte ganz aufgehört. Für die repräsentative Studie wurden im Juli 2020 und Juli 2022 rund 1000 Menschen im Alter von 16 bis 69 Jahren online befragt. Die KKH ist mit rund 1,6 Millionen Versicherten eine der größten bundesweiten gesetzlichen Krankenkassen.
Im Sommer 2020 waren die Ergebnisse „noch nicht ganz so dramatisch“, wie die Krankenkasse mitteilte. Damals gaben 17 Prozent der befragten Raucher an, seit Beginn der Corona-Krise mehr geraucht zu haben als vorher - also nur etwa jeder Sechste. Jeder Siebte (14 Prozent) sagte, er rauche seither weniger als üblich.
Derzeit raucht den Angaben zufolge knapp ein Viertel der Menschen in Deutschland, 18 Prozent davon regelmäßig. 32 Prozent der Befragten begründeten dies mit Stressabbau, 18 Prozent mit Langeweile. Jeder Siebte glaubte, dank des Rauchens besser vom Alltag abschalten zu können. Der wichtigste Grund jedoch: die Gewohnheit. 58 Prozent der befragten Raucherinnen und Raucher sagten, nicht auf den Glimmstängel verzichten zu wollen.
Laut KKH-Versichertendaten stieg die Zahl der Menschen, die wegen Abhängigkeit, Entzugserscheinungen oder psychischer Probleme infolge des Rauchens behandelt wurden, zwischen 2011 und 2021 um rund 73 Prozent. Auffallend: Während bei den Jüngsten bis 19 Jahre dieser exzessive Tabakkonsum in den zehn Jahren um 7,3 Prozent sank, stieg er in der Gruppe der 70- bis 74-Jährigen um 170,9 Prozent. Allein zwischen 2019, also kurz vor der Pandemie, und 2021 lag der Anstieg bei allen Altersgruppen gemittelt bei etwa 7 Prozent.
Unklar sei, ob und wie stark das mit der Pandemie zusammenhänge, sagte der KKH-Suchtfragenexperte Michael Falkenstein. „Da Abhängigkeitserkrankungen über einen längeren Zeitraum hinweg entstehen, bilden sie sich statistisch in der Regel erst zeitverzögert ab.“ Möglich sei, dass viele ehemalige Raucher in den vergangenen Monaten rückfällig geworden seien.
Bei Alkoholmissbrauch wie Rauschtrinken, bei Abhängigkeit und Entzugserscheinungen gab es binnen eines Jahrzehnts einen Anstieg der Diagnosen um rund 31 Prozent - zwischen 2019 und 2021 um 4,5 Prozent. Bundesweit sind laut KKH-Hochrechnung rund 1,4 Millionen Menschen von ärztlich diagnostiziertem Alkoholmissbrauch betroffen - bei schädlichem Tabakgebrauch seien es sogar rund 5,6 Millionen.
Anders als beim Rauchen spielt die Gewohnheit beim Alkohol wohl nur eine untergeordnete Rolle. Fast die Hälfte der Befragten erklärte, in Gesellschaft zu trinken. 37 Prozent nannten den Geschmack, 13 Prozent das Abschalten vom Alltag. „Wie Tabak hat aber auch Alkohol die Eigenschaft, dass man sich an ihn gewöhnt“, warnte Falkenstein. Die Pandemie scheine das Trinkverhalten inzwischen aber weniger negativ zu beeinflussen. Der Umfrage zufolge trinken aktuell 10 Prozent der Befragten mehr Alkohol als vor der Krise, 14 Prozent weniger. Bei der Befragung im ersten Corona-Jahr war es noch umgekehrt.
Tabak- und Alkoholkonsum zählten zu den zwei Hauptrisikofaktoren für einen vorzeitigen Tod, warnte die Krankenkasse. Nach früheren Angaben des Statistischen Bundesamts starben 2020 rund 75 500 Menschen in Deutschland an den Folgen des Rauchens. Die mit Abstand häufigste Todesursache waren Krebserkrankungen. „Viele Menschen sind sich dieser Gefahr gar nicht bewusst oder verdrängen sie, gerade wenn andere Probleme im Vordergrund stehen, etwa private Konflikte oder globale Krisen“, sagte Falkenstein. Vor allem in solchen Zeiten seien Rauschmittel für viele Menschen eine Art Bewältigungsmechanismus.