Berlin (dpa)
Hausärzte als erste Adresse, Zuschläge für Mediziner in dünn besiedelten Regionen, ein Info-Portal für alle Bürger: Experten schlagen ein ganzes Paket für eine effektivere Versorgung vor.
Fehlende Praxen auf dem Land, zu volle Notaufnahmen, langes Warten auf Termine: Angesichts von Problemen für Millionen Patienten empfehlen Berater der Bundesregierung eine grundlegende Neuorganisation des Gesundheitsangebots. Trotz vieler Reformen gebe es im System weiterhin Über-, Unter- und Fehlversorgung, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrats Gesundheit, Ferdinand Gerlach, bei der Vorstellung eines neuen Gutachtens am Montag in Berlin. Nötig sei eine gezieltere Steuerung. Patienten sollten besser informiert und durch das komplexe Gesundheitswesen gelotst werden.
Der Rat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen macht zahlreiche Vorschläge zur effektiveren Planung des Angebots, das auch stärker verzahnt werden sollte. „Vor allem Kliniken und Praxen, zwischen denen eine unsichtbare, aber sehr folgenreiche Mauer verläuft, arbeiten in Deutschland eher nebeneinander als im Interesse des Patienten miteinander“, heißt es im Gutachten. Eine große Rolle sollten Hausärzte und neue zentrale Stellen spielen, die Patienten zu Praxen oder Notaufnahmen leiten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte angesichts der Empfehlungen: „Wir brauchen eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit.“ Ein Überblick:
ARZTPRAXEN: Die Planung, welche Praxen wo gebraucht werden, sollte sich aus Sicht der Experten weniger an der Anzahl der Ärzte, sondern am tatsächlichen Angebot und den Arbeitsstunden orientieren. Es solle unterbunden werden, dass Praxen in begehrten Gebieten teils zu weit überzogenen Preisen an Nachfolger verkauft werden. Wo sich ein Mangel abzeichnet, weil viele Ärzte aufhören, sollten Nachbesetzungen fünf Jahre vor der voraussichtlichen Praxisaufgabe geklärt werden. Als Anreiz für dünn besiedelte Regionen mit weniger Patienten könnten „Landarztzuschläge“ von bis zu 50 Prozent auf die Vergütung dienen.
WOHIN PATIENTEN GEHEN: Schon lange ist es ein vertracktes Problem, wie Patienten - auch je nach Schwere ihrer Beschwerden - gezielter in die verschiedenen Gesundheits-Anlaufstellen „verteilt“ werden können. Besser wäre, dass Patienten immer erst zum Hausarzt gehen, der auch weitere Überweisungen zu Fachärzten oder ins Krankenhaus koordinieren kann. Als Anreiz sollten alle Kassen ihren Versicherten vergünstigte Wahltarife für Hausarzt-Modelle anbieten. Als „Plan B“, falls andere Steuerungsinstrumente nicht greifen, schlagen die Experten erneut vor, eine „Kontaktgebühr“ zu prüfen - zu zahlen, wenn Patienten ohne Überweisung zum Facharzt gehen. Die Höhe müsste die Politik klären. Ausgenommen sein sollten etwa Augenärzte, Frauenärzte und Psychiater.
PATIENTEN-INFORMATIONEN: Damit sich Patienten im komplizierten System besser zurechtfinden, brauchen sie mehr Informationen - nicht zuletzt dadurch, dass Ärzte mehr Zeit haben, direkt mit ihnen zu sprechen. Die Experten schlagen außerdem ein „nationales Gesundheitsportal“ und mehr Gesundheitsbildung in der Schule vor. Künftige digitale Angebote wie elektronische Patientenakten müssten nutzerfreundlich sein - gerade auch für ältere Menschen und zum Beispiel Migranten.
NOTFALLVERSORGUNG: Überfüllte Notaufnahmen mit stundenlangem Warten und überlastetem Personal sind in Kliniken ein großes Problem. Und es kommen zusehends auch Menschen mit eher harmlosen Beschwerden. Die Sachverständigen schlagen daher vor, dass alle Bürger künftig rund um die Uhr „Integrierte Leitstellen“ anrufen können. Die legen dann den „Versorgungspfad“ fest - vom Notarzt mit Blaulicht bis zum Hausbesuch des Bereitschaftsarztes. Können akut behandlungsbedürftige Patienten noch gehen, sollen sie kurzfristig einen Termin in einer Praxis oder einem „Integrierten Notfallzentrum“ einer Klinik bekommen. Dort wird an einem zentralen Empfang entschieden, ob sie ein niedergelassener Arzt oder ein stärker spezialisierter Klinikarzt weiterbehandelt.
KRANKENHÄUSER: Statt an der Bettenzahl sollte sich die Planung der knapp 2000 Kliniken mehr an den vorgesehenen Leistungen orientieren. Stärker einzubeziehen seien auch die Alterung der Gesellschaft und die Entwicklung von Patientenwünschen. Für den Umbau des Angebots mit stärkerer Zentralisierung und Spezialisierung von Kliniken sollte der Bund Steuergeld geben und Mitplanungsrechte bekommen. Vor Eingriffen, die für Kliniken sehr lukrativ sind, sollte immer erst eine zweite Arzt-Meinung eingeholt werden müssen. Bei der Entlassung sollten Patienten Medikamente für bis zu eine Woche mitbekommen können.
Spahn hob die Vorschläge für die Notfallversorgung hervor, die auf neue Füße gestellt werden müsse. Ambulante und stationäre Versorgung sollten künftig „an einem Tresen“ organisiert werden. Der Aufbau von Leitstellen und „Integrierten Notfallzentren“ ist auch schon im Koalitionsvertrag vereinbart. Die Grünen forderten Spahn auf, konkrete Vorschläge dafür zu machen.