Baltimore (dpa)
Die USA standen in der Corona-Pandemie im vergangenen Sommer schlechter da als Europa. Mit einer rasanten Impfkampagne hat sich das Blatt gewendet. US-Präsident Biden weiß das für sich zu nutzen - auch wenn der Erfolg nicht nur sein Verdienst ist.
„Termine zwölf Uhr oder früher“, ruft Feldwebel Stephen Conkey. „Zwölf Uhr oder früher!“, ruft der Soldat erneut und geht auf das Grüppchen zu, das ihm vom Parkplatz aus entgegenläuft. „Heute im Angebot: Pfizer“, prangt auf einem weißen Banner - was nach Kantine klingt, markiert den Eingang zu einem der Massenimpfzentren in den USA. In Baltimore im US-Bundesstaat Maryland wird seit knapp einem Monat im Stadion des örtlichen Football-Vereins gegen Corona geimpft. Soldaten der Nationalgarde sind zur Unterstützung angerückt. Wo in normalen Zeiten mehr als 70 000 Fans Platz haben, können in der Pandemie mehrere Tausend Impfdosen am Tag gespritzt werden.
Die gigantischen Impfzentren sind Teil der Erfolgsgeschichte, von der US-Präsident Joe Biden am Donnerstag erzählt, knapp zwei Monate nach seinem Einzug ins Weiße Haus. Eines seiner wichtigsten Versprechen im Kampf gegen die Pandemie war es, dass in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit 100 Millionen Impfdosen verabreicht werden. Jetzt kündigt Biden an, dass das Ziel Wochen vorher erreicht wird: Nämlich schon an diesem Freitag, nach nur 58 Tagen.
Im vergangenen Jahr waren die USA angesichts des dramatischen Verlaufs der Pandemie vor allem aus Europa betrachtet nicht zu beneiden. Das Land hat - in absoluten Zahlen - so viele Pandemie-Tote wie kein anderes zu beklagen: knapp 540 000. Mehr als 29,6 Millionen Ansteckungen wurden nachgewiesen. Am Donnerstag führt Biden Europa als abschreckendes Beispiel dafür an, was passiert, wenn die Vorsicht in der Pandemie zu schnell nachlässt. „Bitte, bitte, lassen Sie nicht geschehen, was in Europa passiert, wie Sie es im Fernsehen sehen“, sagt er an die Adresse seiner Landsleute.
In den USA geht inzwischen nicht die Kurve der täglichen Neuansteckungen, sondern die der Impfungen immer steiler nach oben. Nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC wurden seit dem Impfstart Mitte Dezember - gut einen Monat vor Bidens Amtsantritt - bereits mehr als 115 Millionen Dosen verabreicht. Mehr als 12 Prozent der Gesamtbevölkerung sind bereits vollständig geimpft. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Impfquote gerade mal bei 3,7 Prozent. Inzwischen werden in den USA nach Bidens Angaben im Schnitt mehr als 2,5 Millionen Dosen pro Tag gespritzt.
In Baltimore liegt Verheißung in der Luft. „Covid beenden fängt mit uns an“ liest, wer das Impfzentrum in Richtung Parkplatz verlässt. Roy Longanecker hat seine Mutter Annerose ins Stadion begleitet. Ihr steht am Ausgang die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. „Ich hatte überhaupt keine Bedenken. Das ist etwas, was man tun muss - so wie wir es mit den Masern machen mussten, als wir jung waren“, sagt Annerose Longanecker. Die 75-Jährige kommt ursprünglich aus Kassel. Ihr Mann arbeitete nahe der deutsch-deutschen Grenze für den US-Geheimdienst. 1967 ging sie mit ihm in die USA.
Sie sei erstaunt gewesen, wie reibungslos der Termin abgelaufen sei, sagt Annerose Longanecker - erst die Registrierung per iPad, dann die Impfung auf der oberen Stadion-Ebene. „Wir haben eine ganze Stunde damit zugebracht, aber es hat sich angefühlt, als wäre die Zeit verflogen.“
„Ein geimpftes Amerika ist der einzige Weg, um die Pandemie zu besiegen, unsere Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen und um unsere Leben und unsere Lieben zurückzubekommen“, sagte Biden kürzlich bei einem Treffen mit den Chefs der Pharmakonzerne Merck und Johnson & Johnson. „Die Impfungen bringen auf so viele Arten Hoffnung und Heilung.“ Seit seinem Amtsantritt hat der neue Präsident Druck gemacht, die Impfungen zu beschleunigen.
Biden hat seinem Vorgänger Donald Trump Versagen in der Pandemie vorgeworfen. Die Impfungen verschaffen Biden gute Nachrichten zum Auftakt seiner Amtszeit. Doch dass etwa die EU-Staaten mittlerweile neidisch auf die andere Seite des Atlantiks blicken, ist nicht allein sein Verdienst. Den Grundstein dafür legte Trumps Regierung.
Im Rahmen des großangelegten Projekts mit dem Namen „Operation Warp Speed“ wurden Milliarden US-Dollar in die Entwicklung, Herstellung und Verteilung von Impfstoffen und Medikamenten gegen das Coronavirus gepumpt. Lob hat die neue Regierung für die Vorarbeit dennoch nicht übrig. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand Anerkennung verdient, wenn eine halbe Million Menschen im Land an dieser Pandemie gestorben sind“, sagte Biden-Sprecherin Jen Psaki kürzlich.
Als Gonzalo Cruz das Football-Stadion in Baltimore verlässt, haut er sich mit der linken Hand mehrmals auf den rechten Oberarm. „Es hat gar nicht wehgetan“, sagt er. „Man fühlt sich sicherer, wir werden uns alle sicherer fühlen.“ Sein 26-jähriger Sohn Juan, der ihn begleitet hat, hat schon zwei Massenimpfzentren hautnah erlebt. Seinen eigenen „Shot“ - seinen Schuss, wie man in den USA zu sagen pflegt - habe er auf dem Parkplatz des Freizeitparks Six Flags America östlich der Hauptstadt Washington bekommen, erzählt Juan. Dafür habe er nicht einmal aus dem Auto aussteigen müssen. Warum er schon geimpft sei, wisse er nicht so genau. Seine Freundin habe ihm vorgeschlagen, sich auch zu registrieren - und es habe geklappt.
Die Katastrophenschutzbehörde Fema listet fünf verschiedene Arten von Impfzentren auf. In umfunktionierten Stadien können jeweils bis zu 6000 Impfungen pro Tag verabreicht werden. Einige Krankenhäuser haben demnach Kapazitäten von bis zu 3000 Dosen am Tag, hinzu kommen mobile Impfkliniken, Apotheken oder Supermärkte.
Wer bevorzugt eine Impfung bekommt, legt jeder Bundesstaat selbst fest. Vielerorts sind derzeit erst einmal Senioren, Menschen mit Vorerkrankungen oder Angehörige bestimmter Berufsgruppen an der Reihe. Biden hat die Bundesstaaten aber angewiesen, die Impfungen spätestens zum 1. Mai generell zu öffnen. Bis Ende Mai soll Impfstoff für alle rund 260 Millionen Erwachsenen in den USA verfügbar sein.
Doch auch in den USA läuft nicht alles, wie es sich etwa die Gesundheitsexperten wünschen würden. Weiße Amerikaner machen den Großteil der vollständig Geimpften aus - knapp 70 Prozent. Weniger als sieben Prozent sind Schwarze, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung viel höher ist. Ihre niedrige Impfquote wird unter anderem mit dem tief sitzenden Misstrauen in das Gesundheitssystem des Landes erklärt, in dem sie noch immer mit impliziten rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert sind.
Roy Longanecker sagt nach der Impfung seiner Mutter im Football-Stadion, er habe nicht damit gerechnet, dass die Impfkampagne so gut laufen würde. Und er erinnert sich an ein Zitat des ehemaligen britischen Premierministers: „Winston Churchill hat einmal gesagt, dass die USA immer erst dann das Richtige tun, wenn sie alles andere versucht haben. Und ich habe das Gefühl, dass wir genau an diesem Punkt sind. Wir haben alles andere ausprobiert. Und wir haben es endlich zu einem System gebracht.“