Berlin (dpa)
Nach einem kurzen Ziehen am Strohhalm führt Brigitte Richter ihr mit Kaffee gefülltes Glas sofort wieder von den Lippen weg. „Scheiße, der ist kalt“, flucht sie. Also geht Pflegerin Ramona Rössner zurück in die Küche und stellt das Glas in die Mikrowelle. Richter, die an diesem Sommermorgen im T-Shirt auf ihrem Bett in Berlin-Schöneberg sitzt, wartet. Rössner kehrt mit dem Glas zurück, Richter nimmt erneut einen Schluck. „Jetzt ist es gut“, sagt die 97-Jährige.
Egal ob warm oder kalt - Rössner, die seit 20 Jahren Pflegerin ist, ist froh, wenn die Seniorinnen und Senioren, die sie ambulant zu Hause pflegt, überhaupt trinken. Vor allem im Sommer kann das überlebenswichtig sein. Denn hohe Außentemperaturen führen laut Robert Koch-Institut (RKI) im Sommer regelmäßig zu deutlich erhöhten Sterberaten, insbesondere bei Älteren.
Die Gründe werden als vielfältig beschrieben: Es gebe Todesfälle durch Hitzschlag, aber auch komplexere Fälle, etwa wenn vorher schon Herz-Kreislauf- oder Lungenerkrankungen bestanden. Für den Sommer 2022 geht das RKI von geschätzt rund 4500 Hitzetoten bundesweit aus. Allein in Berlin kamen dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg zufolge geschätzt mehr als 400 Menschen hitzebedingt ums Leben.
In den Sommermonaten schaut Rössner daher ganz genau hin. „Wenn man die Patienten kennt, merkt man schon am Reden, wenn sie nicht genug getrunken haben“, sagt die 47-Jährige. Das Sprechen falle dann schwerer, die Patienten seien fahrig oder hätten eine trockene Zunge. Regelmäßig müsse sie sie ans Trinken erinnern und stelle an mehreren Orten in der Wohnung Wasserflaschen auf.
Richter, die sie liebevoll mit „meine Süße“ anspricht, bittet sie mehrmals darum, noch einen Schluck zu nehmen oder stößt mit ihr an: „Du trinkst, ich trinke.“ Halb im Scherz antwortet die 97-Jährige: „Auch das noch!“
Alte Menschen haben oft ein geringeres Durstgefühl. Dem Geschäftsführer der Diakoniestation in Schöneberg, Michael Nehls, zufolge wird zudem der Flüssigkeitsverlust bei Hitze stärker. Nehls leitet den ambulanten Pflegedienst, für den Rössner arbeitet. In der ambulanten Pflege sei ein genauer Blick auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr umso wichtiger, da die Patienten viel Zeit allein verbrächten. Es handle sich oft um ältere Menschen, die dement oder altersvergesslich seien. Hinzu komme ein weiteres Problem: „Ältere Menschen, die inkontinent sind, neigen dazu, weniger zu trinken, um ihr Inkontinenz-Problem in den Griff zu kriegen“, sagt Nehls.
Ihren nächsten Patienten weckt Rössner gegen 11 Uhr aus dem Mittagsschlaf. Andreas Seltzer, ein kleiner Mann mit grauen Haaren, bekommt erst mal ein Glas Wasser in die Hand gedrückt, während er noch etwas benommen auf seinem Bett sitzt. „Du trinkst zu wenig“, mahnt Rössner in bestimmtem, aber liebevollem Ton.
Seltzer sagt, er habe überhaupt kein Durstgefühl. „Ich muss quasi zum Trinken animiert werden.“ Außerdem schmecke ihm Wasser einfach nicht. Sein Lieblingsgetränk sei Bier, sagt er und lacht. Dass Rössner und andere Pflegekräfte ihn so oft ans Trinken erinnern, finde er zum Teil nervig. „Dahinter steckt immer der pädagogische Zeigefinger.“
Damit das Pflegepersonal der Diakonie Symptome früh erkennt, hat Nehls einen Hitzemaßnahmenplan entwickelt. Aufgelistet sind unter anderem Merkmale, die auf Gesundheitsprobleme hinweisen. Dazu zählen Kurzatmigkeit, plötzliche Verwirrtheit, Erbrechen und Schwächegefühl. Es werden pflegerische Maßnahmen (leichte Kleidung, keine dicken Decken, wenig Sonneneinstrahlung) und Tipps für die Küche (kalte Suppe, wasserreiches Obst, Lieblingsgetränke) sowie die richtige Belüftung aufgelistet. Außerdem werden den Mitarbeitern Tipps für den eigenen Hitzeschutz an die Hand gegeben.
Auch wenn Rössner nicht müde wird, Wasserflaschen aufzustellen, Lieblingsgetränke zuzubereiten und mit Wasser oder Kaffee anzustoßen, weiß sie: „Wir können die Menschen nicht zum Trinken zwingen.“ Durch gutes Zureden klappe es aber meist. Wenn sich ein Patient in einem brenzligen Zustand befinde, müsse im Notfall ein Arzt gerufen werden. Aber: „So einen Fall hatte ich bisher Gott sei Dank noch nicht.“