Berlin (dpa)
Nach dem Schlemmen an den Feiertagen nehmen sich manche fürs kommende Jahr Besserung vor. Sie zählen Kalorien oder meiden je nach Überzeugung Kohlenhydrate oder Fett. Es gibt aber Stimmen, die für mehr Verlass auf die Intuition plädieren. Selbst bei den Kleinsten.
Neues Jahr, gute Vorsätze: Viele Menschen in Deutschland dürften in diesen Tagen der Völlerei abschwören. All die Lebkuchen und Butterplätzchen, die Gans und die Knödel... Was auch immer an den Feiertagen auf den Tisch kam, als gesund und gut für die Linie gilt kaum eine der klassischen Festtagsspeisen. Allerdings: Nach Low Fat, Low Carb und anderen von Verzicht geprägten Trends hätten viele Menschen Diäten satt, sagt Nadia Röwe, Ernährungswissenschaftlerin am Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) in Bonn. Das könne ein Grund sein, warum sich Experten vermehrt für ein anderes Konzept aussprechen: sogenannte intuitive Ernährung.
Dabei geht es nicht um starre Regeln. Vielmehr sprechen sich die Verfechter für einen individuelleren Ansatz aus. Das Credo: Der Körper eines jedes Menschen wisse am besten, was gut für ihn ist und was er gerade braucht. Die Signale, auf die es zu hören gelte, seien Appetit, Hunger und Sättigung. So etwas wie „verbotene“ Lebensmittel, auf die man letztlich Heißhunger kriegt, gibt es demnach nicht. Eine der wenigen Vorgaben ist, langsam zu essen, um das einsetzende Sättigungsgefühl zu spüren. Das sagen Ernährungsexperten schon lange.
„Abnehmen ist dabei nicht der Kerngedanke, sondern wieder mehr in sich reinzuhören“, sagt Röwe. „Der große Knackpunkt, warum das jetzt so ein Hype ist, könnte darin liegen, dass Ernährung heute ein Statussymbol ist.“ Hinzu kommt: Kern von Diäten sei immer der Verzicht auf etwas - Süßes oder Chips zum Beispiel. „Das hat eine Gegenreaktion der Menschen erwirkt, sich jetzt endlich nicht mehr einschränken zu wollen“, sagt Röwe.
Was steckt dahinter? Der Ernährungswissenschaftler Uwe Knop beschreibt, dass Kinder Erwachsenen etwas voraus hätten: den Ess-Instinkt. Sie vertrauten darauf, dass ihr Körper ihnen sage, was er wolle - seien es auch aus Erwachsenen-Sicht vermeintlich „böse“ Lebensmittel, wie weiße Brötchen, schreibt er in dem Buch „Kind, iss was ... dir schmeckt!“. Knop leuchtet die Wahl der Kinder aber ein: Weißbrot liefere schneller die zum Wachstum benötigte Energie und sei besser verdaulich als Vollkornbrot. Auch den Teller immer leer zu essen, sei im Natur-Programm nicht vorgesehen, so Knop.
Erwachsene hingegen haben diese Art des Essens verlernt. „Wann essen wir denn noch aus Hunger?“, fragt Röwe. „Die meisten essen aus anderen Gründen.“ Einen Einfluss haben Faktoren wie vorgegebene Mittagspausenzeiten und Portionsgrößen sowie das nicht immer zwangsläufig zum eigenen Bedarf passende Angebot. „Mit steigendem Alter nehmen zudem Erfahrungswerte und Einstellungen immer mehr Einfluss“, sagt Röwe. Zum Beispiel, sich nach besonders viel Arbeit etwa mit einem Stück Kuchen zu belohnen. Wieder auf den Körper zu hören, sei nicht so einfach, lasse sich aber trainieren, so Röwe.
Mehr Freiheit auf dem Teller wird inzwischen nicht mehr nur für Erwachsene propagiert. Auch bei der Kinderernährung denken manche um: Statt Brei-Füttern wird heute oft schon Kleinkindern ab sechs Monaten komplett freie Hand gelassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie dürfen vom Essen der Großen stibitzen, was sie wollen, wie viel sie wollen - vorausgesetzt sie wollen überhaupt. Dann geht es von der Hand in den Mund. Das können Stückchen von Kartoffeln, Brokkoli oder Banane sein. Weil zum Beispiel Fast Food dabei tabu ist, könne das Konzept auch für die Eltern eine Chance sein, die Gewohnheiten beim Essen zu überdenken, sagt die Berliner Hebamme Simone Logar.
Baby-led-weaning (wörtlich: vom Baby geleitetes Abstillen) heißt die Methode aus dem englischsprachigen Raum. Vor allem Eltern aus dem Szenekiez wüssten darüber sehr gut Bescheid, sagt Logar. Dort frage bei ihren Kursen zur Beikosteinführung kaum noch jemand nach dem „Brei-System“. Das passt in eine Zeit, in der etwa der Autor Hans-Ulrich Grimm („Gummizoo macht Kinder froh, krank und dick dann sowieso“) Fertigbrei für Säuglinge als Fast Food verurteilt - und als Gefahr fürs Immunsystem sowie Auslöser von Allergien.
Es gibt noch mehr Gründe, eigene Intuition statt Fremdbestimmung zuzulassen: Ernährungswissenschaftler wie Knop, aber auch Maike Ehrlichmann („Einfach ehrlich essen“) weisen auf Grenzen ihrer Disziplin hin. Ernährungstabellen versprächen zwar Orientierung - aber wie gut passen sie im Einzelfall? Letztlich sei jeder Mensch anders und esse auch anders, so Ehrlichmann. Regeln und Tipps zu gesunder Ernährung allerorten („selbst auf der Haferbrei-Packung von Aldi“) hält sie für störend. Bei Beratungen sehe sie, „dass mehr Wissen den Menschen kein bisschen weiterhilft“.
Baby-led-weaning allerdings kann noch zu Diskussionen führen - nicht nur mit Großeltern, die es von früher noch ganz anders kennen. Neben drohendem Eisenmangel bestehe die Gefahr, dass sich die Babys verschluckten, sagte der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Hermann Josef Kahl, der Zeitung „Die Welt“. Auch Nadia Röwe zeigt sich skeptisch: Ein durchkalkuliertes System fehle - und die Intuition des Kindes berücksichtigen könne man auch, indem man beim Brei-Füttern auf Hunger und Sättigung achte. Hebamme Logar sieht es locker: Die meisten Eltern landen nach ihrer Erfahrung bei einer Mischform, zu der ab und an sogar Gläschen-Brei gehören könne.