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DEPRESSIONEN - WENN DIE GEDANKEN IM KOPF UNAUFHÖRLICH KREISEN

Die Krankheit Depression ist in der Gesellschaft weitgehend akzeptiert. Doch es gibt noch viele zu tun bei der Versorgung von Patienten und ihren Angehörigen.

Berlin (dpa)

Die Krankheit Depression ist in der Gesellschaft weitgehend akzeptiert. Doch es gibt noch viele zu tun bei der Versorgung von Patienten und ihren Angehörigen.

Die Stimmung auf der Schwerpunktstation Depression im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee ist ruhig und freundlich an diesem Nikolaustag 2016. Man sieht wenig Weihnachtsdeko. Die Weihnachtszeit ist eine sehr sensible Zeit. Eigentlich wollen die Patientinnen und Patienten nach Hause, aber nicht alle schaffen das.

Denn Depression ist eine schwere Erkrankung, die auch das Umfeld, die Familie schwer belasten kann. Johanna (50) sitzt etwas zusammengekauert auf einem Stuhl: „Ich habe den roten Faden in meinem Leben verloren“, sagt sie. Sie habe sich zu sehr in ihre Arbeit gestürzt, sich zu viele Aufgaben aufgebürdet, wollte immer alles alleine machen. Irgendwann habe sie das alles nicht mehr geschafft.

Zuletzt habe sie sich von ihren Freunden und Bekannten zurückgezogen, wollte sie nicht mehr sehen. „Alles, was mir wichtig war, erstrebenswert, ist wie ein Luftballon geplatzt“, sagt Johanna. Für ihre Umwelt sei dies alles schwer zu begreifen: „Was ist mit meiner Tochter, die nicht versteht, dass sich ihre Mutter das Leben nehmen will? Das fehlende Verständnis blockt mich, da hin zu gehen ... Aber woher soll es mein Mann wissen?“

Natürlich wird die Familie, werden die Angehörigen insofern mit einbezogen, als von ihnen mit abhängt, ob ein Patient zum Beispiel über Weihnachten nach Hause entlassen werden kann. Dringend verbessert werden muss aber die Betreuung und Beratung des Patienten-Umfelds, insbesondere der Familie. Diese sei schon in einem sehr frühen Stadium der Krankheit häufig verunsichert. „Das führt dann auch häufig zu falschen Maßnahmen: „Nun reiß' dich doch mal zusammen. Das geht schon wieder vorbei“, erläutert die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Iris Hauth. Das könne jemand noch weiter in die Depression treiben.

Man müsse erläutern, was eine Depression sei und wie man mit dem Patienten in der Familie umgehen sollte. Es gebe erste Schritte zu mehr Hilfe. Aber: „Die Arbeit mit Angehörigen ist in den Kliniken und auch im ambulanten Bereich noch deutlich zu verbessern“, sagt Hauth, die zugleich Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses ist. Angemessene Beratung der Angehörigen koste aber Zeit, die weder im ambulanten noch stationären Bereich ausreichend finanziert werde.

„Ich hab' ganz doll Schuldgefühle. Woher, weiß ich nicht.“ Petra (44) denkt unter anderem, sie habe Schuld am vermeintlichen Übergewicht ihrer Tochter, sie habe nicht auf gesunde Ernährung geachtet. „Das kann ich nicht mehr rückgängig machen“, sagt sie. Sie ist traurig, fast schon verzweifelt, obwohl die Tochter abgenommen habe. Eigentlich sei alles auf einem guten Weg. Aber: „Ich kann einfach nicht in die Zukunft gucken. Ich hänge in der Vergangenheit.“ Sie versuche, die Gedanken im Kopf zu stoppen und sich abzulenken. “Aber es passiert automatisch“, sagt sie und meint die kreisenden Gedanken im Kopf.

„Mein Mann unterstützt mich ganz doll. Doch so richtig zu verstehen, ist das ja nicht“, berichtet Petra weiter. Und dann wird deutlich, dass ihre Schuldgefühle auch noch von Zukunftsängsten überlagert werden: „Das Schlimmste, was mir passieren könnte. Wenn das Umfeld zusammenbricht. Das wäre eine Katastrophe - und ich alleine dastehe.“ Das alles dauere zu lang. Seit Februar sei sie krankgeschrieben. „Man verzweifelt mit und an sich, weil man nicht rauskommt, und weil es das Umfeld belastet.“

Die Zahl der Diagnose Depression steigt seit Jahren. Von 2000 bis 2013 nahmen nach einer früheren Studie der Techniker Krankenkasse die Fehlzeiten am Arbeitsplatz deswegen um fast 70 Prozent zu. Es würden zwar wesentlich weniger Menschen wegen einer Depression krankgeschrieben als aufgrund von Erkältungen oder Rückenbeschwerden. Die es trifft, fallen aber in der Regel sehr lange aus - im Durchschnitt etwa drei Monate. Hier sei erhöhte Aufmerksamkeit von Betriebsärzten gefragt, sagt Hauth. Das mag für große Unternehmen richtig sein, für kleine und mittelständische stellt sich das Problem anders dar.

Für Iris (46) fing der Stress wieder an, als sich in ihrem kleinen Büro die beiden Chefs zerstritten und sich schließlich geschäftlich trennten. Eine Mitarbeiterin kündigte, damit wurde die Arbeit noch mehr. Iris bekam Atemprobleme. Sie lag nachts oft wach. Wenn sie den Chef sah, bekam sie schon mal „Magenprobleme“. „Da bin ich noch nicht drauf gekommen, dass es psychisch ist“, sagt sie. „Doch dann merkte ich, dass ich zu nichts mehr Lust habe. Ich konnte nicht mehr lachen, habe keine Blumen gegossen, nichts mehr sauber gemacht.“ Als sie ins Krankenhaus eingewiesen wurde, habe sie nur noch geheult. „Ich war so fertig.“ Sieben Wochen sei sie jetzt hier, über Weihnachten geht sie nach Hause. Ihr Mann stehe hinter ihr „und auch von den Freunden sagt keiner: Ach, die ist jetzt in der Klapse.“ Und nach Weihnachten? Sie weiß es noch nicht. Sie will im Januar eigentlich wieder arbeiten, aber es zeichnen sich jetzt schon wieder Probleme mit dem Chef ab.

Stress am Arbeitsplatz steht bei den Risiken für Depressionen ganz vorne. In einem kleinen Büro kann man sich kaum aus dem Weg gehen. Den Arbeitgeber belastet ein langer Ausfall. Er wird in der Regel versuchen, den kranken Mitarbeiter los zu werden. Da das Arbeitsrecht dagegen steht, wird dies wohl auf anderem Wege laufen. Einer ist Mobben. Der Beginn eines Teufelskreises für Menschen mit Depressionen.

Kerstin (27) erzählt, sie habe eine „endogene Depression“ - eine biologisch begründbare Schwermut. Das hänge mit Hormonen zusammen. „Vor einem Jahr ging es mir von einem Tag auf den anderen richtig, richtig schlecht, so dass ich sterben wollte.“ Sie sei im Elternhaus sehr behütet aufgewachsen. „Man denkt nicht, dass hinter einer nach außen perfekt scheinenden Familie solche Probleme stecken.“ Vor einigen Wochen sei sie auf Empfehlung des Psychiaters eingewiesen worden. Zu lange habe sie versucht, sich selbst zu therapieren. Sie habe viele Medikamente genommen, die sie dämpften.

Kerstin wurde inzwischen entlassen. „Es gibt in der Regel nicht nur eine Depression im Leben. Ich hoffe dennoch, dass ich vollständig gesund bin“, sagte sie damals. Eine Woche später ruft sie an, wie verabredet. „Mir geht es wieder schlechter.“ Sie versuche einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu bekommen. Aber 10, 20 Therapeuten am Tag anzurufen, bis einer zurückruft, ist in einer depressiven Phase kaum zu schaffen. Und meistens gibt es Absagen. Den frühesten Termin könne sie im Februar bekommen, sagt Kerstin. Zu lange für jemanden, den Todesgedanken quälen.

Es gibt zu wenig Psychotherapeuten in Deutschland. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, sagt, der Fehler liege schon bei der Bedarfsplanung 1999, zehn Jahre nach der Öffnung der Mauer. Damals sei für die alten und die neuen Bundesländer geplant worden, „obwohl in den neuen Bundesländern der Bereich Psychotherapie noch sehr, sehr wenig ausgebaut war“. Diesen Fehler schleppe man bis heute mit durch. Eine Folge sei, dass die Patienten oft monatelang auf einen Behandlungstermin warten müssten. Werde also ein Patient aus einem Krankenhaus entlassen, könne das, was im Krankenhaus erreicht worden sei, oft nicht aufrecht erhalten werden.

Ein Psychotherapeut in Berlin-Neuköln rechnet vor: 30 Gespräche à eine Stunde in der Woche plus Bürokratie wie die Dokumentation des Behandlungsverlaufes - da seien schnell 50 Stunden zusammen. Mehr gehe nicht.

Das Problem könnte sich durch traumatisierte Flüchtlinge verschärfen. Mohammed (25) kam aus dem Bürgerkriegsland Somalia über Kenia, den Sudan, Libyen und Italien nach Deutschland. Er sah auf dem Weg hierher Menschen sterben. In Kenia wurde er eineinhalb Jahre eingesperrt. In Libyen wurde er geschlagen. Er zeigt auf lange Narben auf dem seitlichen Brustkorb. Im Dezember 2015 kam er in Deutschland an. Hier wurde er krank. „Ich höre Stimmen in meinen Ohren“, sagt er. Mohammed hat keine Familie in Deutschland - in dieser so anderen Kultur. „Im Schlaf sehe ich, wie mich Menschen umbringen wollen.“ Er hat keine Papiere, will aber bleiben. Da er keine Zukunftsperspektive hat, wollte er sich umbringen. Jetzt bekommt er Medikamente.

Bei Jasmin (52) hat wohl alles mit einer Ehekrise angefangen. Die Lehrerin mit Leib und Seele konnte irgendwann keine Arbeiten mehr nachgucken. Der Kontakt zu anderen fiel schwer. Die Einweisung ins Krankenhaus brachte keine nennenswerte Besserung. Zu Hause bekam sie wieder wahnsinnige Ängste. Das ging so weit, dass sie sich beim Einkaufen in ihrem kleinen Städtchen die Kapuze über den Kopf zog.

Andererseits euphorisierte sie ein überdurchschnittlicher Erfolg ihrer Schule bei einem Wettbewerb. Sie fing an, viel einzukaufen: von Weihnachtsbettwäsche bis hin zu einem teuren Auto, verrückte Dinge eben. Sie nimmt ab, bis auf 45 Kilo. Irgendwann stand die Polizei im Wohnzimmer und brachte sie - in Handschellen, weil sie sich wehrte - in die geschlossene Abteilung. Sie habe die Ärzte immer nur angeschrien. Manisch nennt man ein solches Verhalten. „Für die Familie ist das ganz schlimm“, sagt Jasmin. „Und nun die Gene auch beim Kind?! Ich hoffe, dass wir wieder zusammenkommen.“

Ja, die „Geschlossene“ gibt es noch. Während die Gesellschaft heute offener mit psychischen Erkrankungen umgeht als noch vor 20, 30 Jahren, ist die „Geschlossene“ immer noch ein Tabu. Die Bilder von Zwangsjacke und Elektroschocks aus dem Film „Einer flog über's Kuckucksnest“ sind immer noch in den Köpfen - zu Unrecht. Manchmal muss der Patient vor sich selbst geschützt werden, manchmal müssen andere vor dem Patienten geschützt werden. Dazu sei in ganz seltenen Fällen eine „mechanische Beschränkung“ nötig. Das sei rechtlich streng geregelt. Stefan Rupprecht, Oberarzt am Alexianer St. Joseph-Krankenhaus sagt: „Die Krankheit Depression ist weitgehend akzeptiert. Wenn es weiter geht, wird es schwierig.“

Ein deutliches Zeichen dafür, dass psychische Krankheiten wie Depressionen in der Gesellschaft nicht mehr tabuisiert werden, sind Bekenntnisse von Promis wie dem Skispringer Sven Hannawald oder Fußball-Profi Sebastian Deisler und Schwergewichtsboxer Tyson Fury. Hervorzuheben ist auch die Robert-Enke-Stiftung, die dessen Frau nach der Selbsttötung des ehemaligen Profitorwarts ins Leben gerufen hat.

Man möchte fast sagen, die neue „Offenheit“ sieht man heutigen Stationen für Depressionen an. So die Schwerpunktstation Depression im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus, die erst im November neu bezogen wurde: helle Flure, freundliche Zimmer, keine Gitter. 28 Patienten in 14 Ein- bis Dreitbett-Zimmern sind auf der Station. Ähnliches gilt für die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an den Ruppiner Kliniken in Neuruppin: offene freundliche, helle Häuser mit freundlichen Ein- oder Zweibettzimmern. Die Fenster haben auch hier keine Gitter, aber sind abschließbar.

Nach der letzten manischen Phase kam bei Jasmin wieder eine Depression - bipolar nennt man diese Erkrankung, zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, sagt der Volksmund. „Die depressiven Phasen sind die schlimmen, das sind die richtig schlimmen, die tun weh.“ Jasmin weint ein bisschen. „Man fühlt sich wie eine Untote. Ich will tot sein, aber man lässt mich nicht. Aber ich hab' ja auch ein Kind und einen Mann.“ Man verkrampft, man zittert oft vor Angst.

Jährlich versuchen schätzungsweise 100 000 Menschen in Deutschland, sich das Leben zu nehmen, 10 000 töten sich selbst. Die Suizidzahlen insgesamt sind rückläufig, doch bei über 60-Jährigen steigen sie, sagt die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Für deren Vorstand Eugen Brysch ein deutliches Zeichen, dass Depressionen - die Hauptursache für Suizide - im Alter nicht ausreichend behandelt werden.

Auf die Frage am Ende der Visite wie es ihr gehe, sagt Urda Barowski, Oberärztin in den Ruppiner Kliniken in Neuruppin (Brandenburg): „Es geht mir gut. Das ist meine Arbeit.“ Man müsse immer schauen, welches der richtige Weg ist. Das müsse dann regelmäßig auch mit den Angehörigen besprochen werden.

Um eine professionelle Distanz zu den „Fällen“ halten zu können, helfen regelmäßige Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen und auch der Austausch mit den Vorgesetzten. Aber, sagt Barowski: „Ohne Vertrauen geht es nicht. Psychiatrie heißt sich einbringen, auch als Arzt. Viel Kontakt, viel Zeit, viel Geduld, viel Engagement.“ Sprechende Medizin eben.

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