Valencia (dpa)
Im Land mit den größten Ölreserven verschlimmert sich die Lage von Tag zu Tag. Wegen einer Rekordinflation und tiefer Rezession ist besonders in Venezuelas Krankenhäusern die Lage sehr dramatisch.
Vanessa Hernández hat gerade ihr einziges Kind verloren. Sie steht an Schalter 2 des Hospitals „Jorge Lizarraga“ in der venezolanischen Stadt Valencia. Durch das vergitterte Fenster wird ihr der weiße Totenschein gereicht: David Hernández, geboren am 29.09.2015, gestorben mit gerade mal neun Monaten. Die 19 Jahre alte Mutter schluchzt und ist völlig paralysiert. Als Todesursache wird ein septischer Schock genannt. „Die Versorgung ist eine Katastrophe, es gibt noch nicht einmal Desinfektionsmittel“, klagt die Mutter an.
Die Szenen im und rund um das Krankenhaus sind schwer auszuhalten.
Weinende Menschen, hilflose Ärzte, die nicht reden wollen. Hier stirbt Venezuelas Zukunft. Ein Sicherheitsmann achtet darauf, dass kein Unbefugter das Hospital betritt. In Krankenhäusern etwa in Caracas schieben auch Militärpolizisten Wache. Die sozialistische Regierung des taumelnden Präsidenten Nicolás Maduro will kritische Berichte über die dramatische Lage im Gesundheitssektor verhindern.
Die Opposition wirft dem mit Notstands-Dekreten regierenden Präsidenten die Vorbereitung einer Diktatur vor, er stemmt sich gegen ein Referendum zu seiner Abwahl. Die Inflation von geschätzt über 600 Prozent und wegbrechende Einnahmen aus dem Ölgeschäft machen es für das Land mit den größten Ölreserven der Welt immer schwerer, die notwendigen Medizinimporte zu bezahlen. In Apotheken ist vieles nicht mehr zu bekommen, der Schwarzmarkt blüht überall. Hinzu kommt die Lebensmittelkrise, Kinder sind unterernährt, Angehörige bringen jeden Tag Essen im Hospital vorbei. „So schlimm war es noch nie“, sagt Javier, der seit 30 Jahren am Krankenhauseingang Kaffee verkauft.
Ein Hintereingang des Hospitals ist unbewacht, es geht hinein in die düsteren Gänge. Im 1. Stock sind drei Räume vollgequetscht mit weißen Gitterbetten, Babys schreien. Ein knappes Dutzend Ärzte macht Visite, sie wirken hilflos, machen sich Notizen. Mütter berichten, dass sie zum Teil selbst Handschuhe, Mundschutz und Sauerstoff kaufen müssen.
Die Flasche Sauerstoff kostet auf dem Schwarzmarkt 3000 Bolivares, drei Dollar, das entspricht einem Fünftel eines Monats-Mindestlohns.
Venezuela war eigentlich ein wohlhabendes Land, an Bodenschätzen reich - kubanische Ärzte wurden zu Tausenden gegen Öllieferungen ins Land geholt. Doch was sollen sie machen, wenn es an vielem mangelt?
Außerhalb der Hauptstadt Caracas ist die Krise besonders heftig, wie auch eine Reportage der „New York Times“ aus Barcelona zeigte. Die Todesrate bei Babys unter einem Monat stieg dem Bericht zufolge in Venezuela von 0,02 Prozent (2012) auf zwei Prozent. Im ganzen Land haben sich Medikament-Tauschbörsen gebildet. Vor dem Krankenhaus in Valencia campieren unter einem überdachten Gang dutzende Angehörige in Hängematten. Eine Frau, die in ihrer Hängematte sitzt, sagt:
„Heute Nacht sind wieder zwei Kinder gestorben, am Morgen noch eins“.
Das Kind heute Morgen war der kleine David von Vanessa Hernández.
Anahis Rojas (36) schläft seit einem Monat hier im Freien. „Es ist gefährlich hier, nachts muss man aufpassen“, sagt sie. Sogar im Krankenhaus hätten Diebe nachts schon in Krankenzimmern Mobiltelefone gestohlen, wird berichtet. Ihre Tochter Adelisis ist mit dem einen Monat alten Sohn Sebastián seit der Geburt drinnen im Krankenhaus, er hat Atemprobleme. Anahis Rojas ist den ganzen Tag damit beschäftigt, auf dem Schwarzmarkt Medikamente für seine Behandlung zu besorgen.
„Das Antibiotikum, das wir brauchen, kostet schon 4200 Bolivares, ich weiß nicht, wie wir es noch bezahlen sollen.“ Ganz in der Nähe schluchzt Sodelis Balboa in ihr Mobiltelefon, vom letzten Geld hat sie noch eine Infusionsflasche kaufen können. Ihre kleine Tochter hat das Zika-Virus. „Jetzt sagen sie, es hat Komplikationen gegeben.“
Am Krankenhaus fährt ein Krankenwagen vor, darauf ein Konterfei des Begründers des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, Hugo Chávez.
Darunter der Slogan: „Effizienz oder Nichts.“ Wirkt wie blanker Hohn, denn im Moment trifft eher letzteres zu. Es gibt aber auch gute Nachrichten - Yumayris Ramírez hat gerade mit ihrem neugeborenen Sohn Johangel das Krankenhaus verlassen, er ist wohlauf. „Hoffentlich wird es ihm besser gehen als uns derzeit“, hofft sie auf einen Wandel.
Viele fürchten, der Zorn über die Krise kann sich in Gewalt entladen.
Vanessa Hernández steht verloren im Innenhof des Krankenhauses, den weißen Totenschein in der Hand. Ihre Mutter versucht, die Dinge zu ordnen, sie telefoniert: “Wir müssen die Beerdigung organisieren.“