Frankfurt/Main (dpa)
Menschen feiern dicht gedrängt, Freunde umarmen sich ungeniert, niemand fragt mehr nach einem Impfausweis. Das Leben ist zurück, Corona scheint fast vergessen. Dabei hatten Umfragen zufolge viele Menschen erwartet, dass wir uns nie wieder die Hände schütteln. Viele hätten sich nicht vorstellen können, dass sie sich je wieder in einer Menschenmenge wohl fühlen. Doch diese Empfindungen gingen in vielen Fällen wieder fast so schnell wie sie gekommen waren. Aber wie kann das sein?
Vergessen ist lebenswichtig, sagen Hirnforscher und Psychologen. Wenn wir immer alles speichern würden und immer alles gleich wichtig wäre, wären wir handlungsunfähig. Der Animationsfilm „Inside Out“ („Alles steht Kopf“) erklärt die Abläufe sehr anschaulich: Wie in einer Eier-Sortieranlage werden die bunten Erinnerungskugeln im Kopf der Hauptfigur in einem gigantischen Röhrensystem ständig aus- und umsortiert. Was in welcher Form wieder ans Tageslicht kommt, hängt auch damit zusammen, welche Emotion gerade dominiert.
Vergessen im Sinn von gelöscht haben wir Corona sicher nicht, sagt die Psychologin Susanne Spieß vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Die Frage ist weniger, woran wir uns erinnern, als wie wir uns daran erinnern. Spieß vergleicht das mit einem Trauerprozess, bei dem es verschiedene Phasen gibt. „Wir können in dem Gefühl bleiben, das wir damals damit verbunden haben. Oder wir können uns mit den Gefühlen, den Gedanken, der Situation an sich auf verschiedene Weise auseinandersetzen. Dann beginnt die Heilung.“
Die vermeintliche „Vergessensleistung“ sei eigentlich eine „Verarbeitungsleistung“, sagt Spieß. Wie gut das gelinge, hänge auch davon ab, „wie gut ich bewusst entspannt im Hier und Jetzt sein kann“. Außerdem liefen bei jedem Menschen andere Selektionsprozesse ab, abhängig von den Vorerfahrungen, Vorlieben, Ängsten und Einstellungen: Wer sich schon immer in Menschenmengen unwohl fühlte, wird dieses - in der Pandemie verstärkte - Gefühl der Vorsicht vermutlich länger haben als jemand, der sich schon immer auf Straßenfesten pudelwohl fühlte.
Gegen Ende der Coronazeit sei es vielleicht zu einer Art Desensibilisierung gekommen, sagt Spieß. Die erste Umarmung nach den Lockdowns fühlte sich noch seltsam an, vor allem, weil man immer die Perspektive des anderen mitdachte: Ist das ok für sie oder ihn? Aber mit jeder Umarmung verschwand die Irritation ein bisschen mehr. Bei Menschen, die immer allen um den Hals fielen, ging das vermutlich schneller als bei Menschen, die Körperkontakt lieber meiden.
Martin Korte, Professor für Zelluläre Neurobiologie an der Technischen Universität Braunschweig, vergleicht das Vergessen mit „einem gut programmierten Spamfilter“. Vergessen bedeute, Unwichtiges von Wichtigem trennen. Nur weil wir vergessen, können wir Neues entdecken, abstrakt denken und Probleme lösen. Vergessen erlaubt es dem Gehirn, sich auf die jeweils wesentlichen Informationen zu konzentrieren.
„Löschen und Vergessen sind daher keine Fehler oder Aussetzer in der Wahrnehmung, vielmehr gehören sie fest zu den dafür nötigen Abläufen“, schrieb Korte 2018 im „Spektrum der Wissenschaft“. Längerfristig gespeichert werde nur „ein verschwindend kleiner Teil“ unserer Erlebnisse. „Schreibgeschützt“ sind zum Beispiel oft traumatische Erlebnisse. Und die Erinnerungen ändern sich mit jedem Abruf ein kleines bisschen.
Dominique de Quervain und Andreas Papassotiropoulos von der Universität Basel haben die Rolle der Emotionen bei Erinnerungen 2022 mit Hilfe der Magnetresonanztomographie nachgewiesen. Sie zeigten 1418 Menschen emotionale und neutrale Bilder und zeichneten ihre Hirnaktivität auf. „Sowohl an positive als auch an negative Bilder erinnerten sich die Studienteilnehmenden in einem späteren Gedächtnistest viel besser als an neutrale Bilder“, fasste die Hochschule die im Fachmagazin PNAS veröffentlichten Ergebnisse zusammen.
Ein Stück weit kann man auch steuern, woran man sich erinnern möchte, wie Ann-Kristin Meyer und Roland G. Benoit vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig 2022 gezeigt haben. Wenn man unerwünschte Erinnerungen bewusst unterdrückt, sind sie beim nächsten Erinnern weniger lebhaft und blasser als vorher.
Auch wie wir uns an die Coronazeit erinnern, hängt unter anderem davon ab, welche Emotionen damit verbunden sind, sagt Spieß. Menschen, die Verluste erlitten haben, die einen nahe stehenden Menschen verloren haben oder ihren Job, kommen vermutlich schlechter aus dem Gefühl heraus. Besonders gut abschließen können Menschen, „die der Corona-Krise einen Sinn geben können“, wie Spieß sagt.
Das könnten beispielsweise Menschen sein, die stolz darauf sind, dass wir als Gesellschaft das gemeinsam gemeistert haben - oder die sich freuen, dass sie dadurch nun tageweise im Homeoffice arbeiten dürfen. „Dann speichert man die Krise eher als Lernerfahrung ab.“
Mit dem Abstand wird die Erinnerung anekdotisch: Weißt Du noch, wie sie im Café auf den Kaffee immer einen Deckel machen mussten, den dann jeder in den Papierkorb vor dem Laden warf, weil nur „to go“ erlaubt war und als „to go“ nur zählte, wenn ein Deckel drauf war? Heute finden wir Auswüchse wie diese lustig, damals haben wir uns darüber geärgert. Was dazwischen passiert ist, sagt Psychologin Spieß, ist, „dass wir die Opferrolle verlassen haben“.