Berlin (dpa)
Vor einem Monat begann der große Lockdown. Gefühlt ist das für viele schon eine halbe Ewigkeit her. Inzwischen hat sich der Horizont ein wenig gelichtet. Aber gleichzeitig steht auch fest: Normalität ist nicht in Sicht.
Der 18 Jahre alte Tim aus Köln war sich ganz sicher: Die Abiturprüfungen fallen dieses Jahr aus. Gekillt von Corona. Deshalb verbrachte er die vergangenen vier Frühlingswochen nicht am Schreibtisch, sondern an einem See. Seit Mittwoch weiß er, dass das eine Fehlkalkulation war: Die Prüfungen finden statt, erste Auflagen werden gelockert. Tim sieht jetzt schwarz für seine Noten: „Das war's dann wohl mit meinem Abi.“
Vier Wochen Sonne, vier Wochen Lockdown. Es war ein merkwürdiger Kontrast in dieser Zeitspanne, die wohl keiner je vergessen wird. Ganz genau lässt sich der Tag nicht festlegen, an dem es begann. Für die einen war es vielleicht schon der 16. März, an dem in den meisten Bundesländern Schulen und Kitas erstmals geschlossen blieben. Sportinteressierten dämmerte es womöglich am 17., als die Fußball-EM um ein Jahr verschoben wurde.
Wieder andere erfassten die Lage am 18., als sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache ans Volk wandte, ohne ein frohes neues Jahr zu wünschen. Die Letzten müssen es am 23. gemerkt haben, als die von Bund und Ländern beschlossene Kontaktsperre in Kraft trat. Spätestens da wurde deutlich, dass sich Deutschland verändert hatte. Durch eine Pandemie, wie man sie bisher nur aus Katastrophenfilmen kannte.
Die alles beherrschende Frage ist seitdem: Wie lange dauert das noch? „Desaster Fatigue“ macht sich breit - Katastrophenmüdigkeit. Schon lange ist keinem politischen Ereignis mehr so entgegengefiebert worden wie den Beratungen von Bund und Ländern am vergangenen Mittwoch in Berlin. Würde er kommen, der Einstieg in den Ausstieg? Das Ergebnis: Die Corona-Fesseln bleiben, aber sie werden ein klein wenig gelockert. „Zerbrechlicher Zwischenerfolg“ heißt das Merkel-Wort der Stunde.
Man konnte aus der Pressekonferenz der Bundeskanzlerin zwei sehr unterschiedliche Botschaften mitnehmen. Die eine ist positiv: Es geht aufwärts. Das sei sehr wichtig gewesen, sagt der Psychologe Winfried Rief von der Universität Marburg. „Wir sehen ja auf der Negativseite ein Anwachsen von Problemen im privaten Bereich, in der psychosozialen Belastung. Das spürt man allenthalben, dass die Leute ein bisschen angenervt sind. Umso wichtiger ist es, da Zeichen zu setzen: Es gibt Erleichterungen, und diesen Weg wird man weitergehen, wenn es irgendwie möglich ist.“
Die zweite Botschaft, die vielleicht nicht ganz so offensiv vermittelt wurde, war allerdings: Normalität ist nicht in Sicht. Corona bleibt. Restaurants dürfen weiter nicht öffnen, Großveranstaltungen gibt es frühestens ab September. „Gerade Feste und Konzerte haben einen nicht zu unterschätzenden positiven Effekt auf die Bevölkerung, und das fällt jetzt auf absehbare Zeit weg“, analysiert Rief. „Das bringt enorme gesellschaftliche Herausforderungen mit sich.“
Die größte Herausforderung besteht wohl darin, sich auf absehbare Zeit auf ein Leben mit Corona einzustellen. Nähe bleibt dem Partner oder der Kernfamilie vorbehalten, der Kontakt zu allen anderen vollzieht sich weiter auf Abstand. Nach einer YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur bekommt seit Beginn der Corona-Krise jeder dritte Bundesbürger (34 Prozent) weniger von seinen engsten Nachbarn mit.
Viele alte Menschen verlassen ihre Wohnungen nicht mehr, und das könnte so bleiben, bis ein Impfstoff gefunden ist. Die nächste leibhaftige Begegnung mit Oma und Opa also an Weihnachten? Ein deprimierender Gedanke. Die äußeren Umstände des Lebens hätten sich einschneidend verändert, sagt der 88 Jahre alte Maler Gerhard Richter der Deutschen Presse-Agentur. „Die hektische Betriebsamkeit, die wir hatten, entfällt.“ Und das aller Voraussicht nach noch für Monate.
Der Appell der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten, beim Einkaufen und im öffentlichen Nahverkehr künftig eine Maske zu tragen, kann die Krise optisch sogar noch deutlicher zu Tage treten lassen.
Es herrscht eine fast apokalyptische Stimmung, über die sich der Expressionist Jakob van Hoddis 1911 in seinem berühmten Gedicht „Weltende“ ein bisschen erhob: „Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen“, heißt es da. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.“
Wie lange weicht der maskierte Passant noch auf die gegenüberliegende Straße oder die Fahrbahn aus, um einer Begegnung vorzubeugen? Sein Verhalten ist natürlich richtig, und doch fragt man sich, nach wie vielen Monaten man dadurch zum Soziopathen wird. Beklemmend auch das Gefühl aufsteigender Panik, wenn es am Samstagnachmittag im Supermarktgang mit dem Toastbrot zum Einkäuferstau kommt. Ob der Alltagstrott von früher jemals wieder ganz zurückkehrt? Vielleicht steht in 30 Jahren bei Wikipedia unter „Händeschütteln“: „Ausgestorbene Kulturtechnik der Prä-Corona-Epoche.“
Viele Menschen erhoffen sich erlösende Worte von den Auguren dieser Krise, den Virologen. Experten wie Lothar Wieler, Christian Drosten, Hendrik Streeck und Alexander Kekulé haben eine Bekanntheit erlangt wie sonst nur Popstars und Spitzenpolitiker.
Wie moderne Staatsorakel werden sie angerufen, um die Zukunft vorauszusagen. Und genau wie ihre Vorläufer in der griechischen Antike tun sie dies nicht unbedingt mit klaren Ansagen, sondern in einer Sprache, die vielen unverständlich bleibt. Das tut ihrem Status aber keinen Abbruch, im Gegenteil: Die Überhöhung geht soweit, dass eine 46 Jahre alte Kölnerin - sie will nicht genannt werden - wochenlang jeden Abend mit dem Podcast von Christian Drosten eingeschlafen ist. Mittlerweile ist sie allerdings auf den Podcast von Hendrik Streeck umgestiegen, weil der optimistischer sei: „Wer mir mehr Hoffnung macht, der gewinnt.“
Es ist ein schwieriger Balanceakt, einerseits den unveränderten Ernst der Pandemie zu betonen und andererseits Mut zu machen. Der Queen ist das schon vor zehn Tagen recht gut gelungen. In ihrer Fernsehansprache entwarf sie keine Utopien von einer schönen neuen Nach-Corona-Welt, so wie dies einige Zukunftsforscher tun. Die 93 Jahre alte Monarchin stellte nur das Wesentliche in Aussicht. Sie sagte: „Wir werden wieder bei unseren Freunden sein. Wir werden wieder bei unseren Familien sein. Wir werden uns wiedersehen.“